Wortkünstler mit schwarzem Hund

Wortkünstler mit schwarzem Hund

– Seine Gedichtbände widmete er der Ehre Gottes. Am 29. April ist der australische Dichter Les Murray gestorben. – 

Wer Les Murray einmal begegnet ist, wird sich an seine enorme körperliche Präsenz erinnern, in zweifacher Hinsicht. Da war einmal sein schierer Umfang, der ihn größer erscheinen ließ als er es war, obenauf der lachende wackelnde Kopf mit der kugelrunden Glatze. Da war zudem Murrays Stimme, eine durch alle Register sich schlängelnde Singstimme, denen die Gedichte als Partitur dienten: säuselnd, grollend, schnatternd. Prosa sei protestantisch, schrieb er einmal, aber Lyrik ist katholisch:

poetry is Catholic:
poetry is presence 

Insofern könnte man sagen, war Les Murray mit seiner massiven Präsenz selbst ein Stück  Poesie.

Sein tiefer Glaube – er widmete alle seine Gedichtbände der Ehre Gottes – ging einher mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Moderne, einer steten Feier traditioneller Werte und des ländlichen Lebens. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Murray nie den Nobelpreis erhalten hatte, wenn er auch seit Jahren oder Jahrzehnten zu den Favoriten zählte: In Stockholm wählt man nie gern konservativ. Freilich war Murray längst nicht so reaktionär, wie er sich gerne  gab.

Bei aller heftigen Ablehnung etwa der amerikanischen Poesie der sechziger Jahre – Gary Snyder zum Beispiel war ihm ein Graus – ging Murray in seine Versen formal wie inhaltlich doch selbst weit über das von ihm verehrte 19. Jahrhundert hinaus. So hatte er keine Scheu, den »Fledermaus-Ultraschall« auf eine Weise einzufangen, die auch Ernst Jandl alle Ehre gemacht hätte:

ah, eyrie-ire, aero, eh?
O’er our ur-area (our era aye
ere your raw row) we air our array,
errm yawm row wry – aura our orrery 

Das ist praktisch nicht zu übersetzen, Murrays Übersetzerin Margitt Lebert allerdings dürfte dem Original so nahe gekommen sein wie eben möglich, nachzulesen in dem Band Übersetzungen aus der Natur, der in Lehberts eigenem Verlag, der Edition Rugerup erschienen  ist.

Bekannt geworden ist Les Murray hierzulande vor allem durch sein Opus Magnum Fredy Neptune (1998, dt. 2004), das große Versepos um die Odyssee des Kraftkünstlers Friedrich Boettcher, der einer deutschen Einwandererfamilie in Australien entstammt, durch das zwanzigste Jahrhunderts und durch die Wortstürme und Schreckensbilder, die sein Autor vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des Zeitalters der Atombombe entfesselt. Fredy Neptune ist das überbordende Gegenstück zu Omeros von Derek Walcott, dem anderen großen Gegenwartsepos aus dem Randgebiet der englischen  Sprache.

Im Oktober 1938 geboren, lebte Murray als einer von 170 Einwohnern in dem kleinen Ort Bunyah im Südosten Australiens. Bunyah heißt auch sein letzter, 2015 erschienener Gedichtband, und dieses Bunyah war ihm Inbegriff des guten, des richtigen Lebens und des wahren Australiens – Gegenbild der modernen Stadt. Nicht zuletzt den Aborigines und den traditionellen Liedformen der Ureinwohner des Kontinents fühlte sich Murray eng verbunden. Gleichwohl lebte er lange Zeit in Sydney, lehrte an der Universität, war umtriebiger Herausgeber von Zeitschriften und Anthologien, und in den siebziger Jahren eine Zeit lang sogar in kulturellen Angelegenheiten Berater des Premierministers. Es mag auch der Depression, die ihn immer wieder ereilte und der er den autobiografischen Bericht Der Schwarze Hund (dt. 2012) widmete, geschuldet sein, dass er sich schließlich ganz in seine Herkunftswelt, nach New South Wales  zurückzog.

Der Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee, der aus Südafrika stammt und seit 2002 in Australien lebt, hat Murrays Werk unlängst einen längeren Essay gewidmet. Er verweist darin auf die Problematik, die in der poetischen Aneignung der Aborigines-Kultur durch Autoren wie Les Murray liegt. Zugleich stellt er Murray in die Tradition der Priester-Poeten, namentlich des Engländers Gerard Manley Hopkins. So skeptisch Coetzees dem ans Irrationale grenzenden Anti-Modernismus Murrays gegenübersteht, so nachdrücklich bekräftigt er seine Bedeutung für die australische wie die englischsprachige Lyrik überhaupt. Kaum jemand habe so starke, treffende Bilder zu finden vermocht wie Murray, kaum jemand sei bei allem Bewusstsein weltanschaulicher wie metaphysischer Berufung so humorvoll  geblieben.

Das Gedicht »Allein die Bilder« vereint beides, seinen großen Witz und seinen klaren Sinn dafür, visuelle und auditive Erfahrungen in Verse zu fassen:

Die Weiden hatten Perlenähnliches im Haar und
Peenemünde, stöhnte der Zahnarztbohrer, Peenemünde!

Am 29. April ist Les Murray im Alter von achtzig Jahren in New South Wales  gestorben.

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 2.5.2019