Postleitzahl: 3000

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– Zum 100. Geburtstag des Berner Dichters Kurt Marti. –

Kurt Marti hätte am 31. Januar seinen 100. Geburtstag feiern können. Doch das wollte er gar nicht, der Berner Schriftsteller wünschte sich kein ewiges Leben. Sechs Jahre vor seinem Tod fühlte er sich, 90-jährig, zu alt und »überzählig«. Die Freunde rundum starben ihm weg, sein Körper wurde gebrechlich. »Man bröckelt langsam ab«, sagte er in einer Radiosendung.
Sein Werk ist frisch geblieben, manches erschütternd aktuell. Zum Beispiel die Leichenreden, die nun im Verlag Nagel & Kimche neu aufgelegt wurden. Der begnadete Dichter, der auch ein evangelischer Theologe war, hat sie geschrieben, als es ihm ging, wie vielen Pfarrern heute: Er musste Menschen im Akkord zu Grabe tragen. Nicht wegen einer Pandemie, sondern weil im Quartier rund um die Nydeggkirche in Bern, wo er von 1961 bis 1983 als Pfarrer arbeitete, viele alte Leute wohnten. Manchmal hielt er zwei-, dreimal pro Woche eine Abdankung und ertappte sich dabei, wie er in Klischees verfiel und zu Pathos, Worthülsen und plumpen Tröstungen griff. »Was machst du da? Was sagst du da?«, habe er sich gefragt, sein Sprechen hinterfragt und lyrisch verarbeitet. Entstanden ist eines seiner bekanntesten Gedichte, das so anfängt:

dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. Lips
durch einen verkehrsunfall starb

erstens war er zu jung
zweitens seiner frau ein zärtlicher mann
drittens zwei kindern ein lustiger vater
viertens den freunden ein guter freund
fünftens erfüllt von vielen ideen

was soll jetzt ohne ihn werden?
was ist seine frau ohne ihn?
wer spielt mit den kindern?
wer ersetzt einen freund?
wer hat die neuen ideen?

Wie gut, ist Kurt Marti noch da. Auch wenn er seit vier Jahren tot ist.

Sarah Jäggi, Die Zeit, 1.2.2021