Farbiges Land hinter verschlossenen Fenstern

Farbiges Land hinter verschlossenen Fenstern

– Er war ein Meister der Landschaftsmalerei in Versen: Jetzt ist der Büchnerpreisträger Jürgen Becker im Alter von zweiundneunzig Jahren in Köln gestorben. –

Jürgen Becker wurde 1932 geboren. Damit zählte er zur sogenannten skeptischen Generation, die den Nationalsozialismus und den Krieg in der Kindheit oder Jugend erlebte und danach Ideo­logien nur noch mit Vorsicht begegnete. Beckers Werk, das aus Hörspielen, journalartigen Erzählungen und vor allem Gedichten besteht, kommt tatsächlich ohne starke Überzeugungen oder gar Glaubenssätze und überhaupt ohne Aufwallungen aus. Seine Skepsis reichte aber noch weiter und richtete sich auch gegen überlieferte literarische Formen: Seine Gedichte sind ungereimt und verzichten auf besondere Metaphern, die Erzählungen leben nicht vom Plot oder von den ­Figuren, sondern von intensiven und erhellenden Beobachtungen. Dass diese Haltung der Vorsicht etwas mit frühen Erschütterungen und Desillusionierungen zu tun hat, zeigen noch seine spätesten Bücher: Der September blieb für ihn immer der Monat, in dem der Zweite Weltkrieg begann, in den Träumen fielen immer noch Bomben, und im Gewitter hörte er das Geschützfeuer. Das frühe Zerbrechen der elterlichen Ehe und der Tod der Mutter schmerzten nach Jahrzehnten noch.

Aber zur skeptischen Generation gehörte auch die Fähigkeit, nach dem Krieg in der neuen westlichen Gesellschaft aufzubrechen und die sich bietenden Chancen zu nutzen. Die Jahre nach dem Krieg wirkten auch auf Becker befreiend, neue Verheißungen warteten:

Herbst 49,
hinter Aachen vorm belgischen Schlagbaum, entdeckten wir
das Büdchen mit Fritten, die erste Portion, gelb,
knusprig und salzig, fing an so etwas wie Sucht lebenslang
nach einer Tüte voll Paradies.

Wie andere Autoren seiner Zeit fand er einen Platz in der sich schnell ent­wickelnden und damals finanzkräftigen Medienwelt, arbeitete in Verlagen und beim Rundfunk, mit der wichtigsten Station als Leiter der Hörspielredaktion des Deutschlandfunks von 1974 bis 1993.

In seinen Büchern erkennt man überall die alte Bundesrepublik wieder, den ökonomischen Aufschwung, die Dominanz der Mittelklasse, die Zersiedelung der Landschaft, festgehalten in einem typischen Gedicht mit dem Titel »Skizzenblock«, das so beginnt:

Morgens in der Westluft, klar und blau,
der Geruch der rheinischen Olefin; ich betrachte
das farbige Land hinter verschlossenen Fenstern.
Die Garagen öffnen sich; Mittelklassen unterwegs.
Kräne, hinter den Wäldern blitzen auf; die Konvois
auf den Zubringern stehen. Wintersaat, einzelne Traktoren

In solchen Versen mit ihrer Typik tritt zugleich die Individualität Beckers hervor, der 2014 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Wenn seine Gedichte nicht aus Ideen hervorgehen, so besitzen sie doch eine Rhythmik des Satzbaus, und ihre Besonderheit liegt im genauen Sehen und im Festhalten des Beobachteten. Becker war Realist, aber wie alle ästhetischen Realisten bildete er nicht einfach ab, sondern wählte aus der Wirklichkeit aus, ließ Elemente hervortreten oder führte sie überraschend zusammen. Er gehörte zu den Bildermenschen, so wie seine vor ihm verstorbene Frau, die Malerin Rango Bohne, der er in den späten Gedichten liebevoll nachtrauert, und wie sein Sohn, der Fotograf Boris Becker.

Es ist daher kein Wunder, dass ihn bildende Künstler interessiert und beeinflusst haben und auch Eingang in seine Texte fanden. In einem berühmten Gedicht beschrieb er das Phänomen des späten Schneefalls im April, der noch einmal alles weiß bedeckt, aber schnell wieder wegtaut:

April-Schnee; schnell; noch einmal
ist fünfzehn Minuten
Winter und völliges Verschwinden
der Krokus-Gebiete

Von dieser Erfahrung der Kurzlebigkeit aus geht es direkt zu einem Zitat Andy Warhols:

und
fünfzehn Minuten, in Zukunft,
sagt Warhol, ist Ruhm

Aus dieser überraschenden Verbindung ging ein Vergänglichkeitsgedicht des späten zwanzigsten Jahrhunderts hervor, fast barock, denn in der Betrachtung der Natur versteht man, wie schnell auch der menschliche Ruhm verfliegt, »wie Schnee, Verschwinden, April«.

Zeigte sich mit Warhol noch einmal der westliche Einfluss und war Beckers Lebensgebiet das Rheinland um Köln herum gewesen, so richtete sich sein Blick auch nach Osten. Das hängt wiederum mit der frühen Lebensphase zusammen, denn er ist zwar in Köln geboren worden, lebte aber von 1939 an für mehrere Jahre mit der Familie in Erfurt. Diese Jahre waren prägend, und daher war die Wiedervereinigung für ihn ein großes Geschenk. Endlich konnte er sich wieder frei in den Kindheitslandschaften bewegen.

Landschaften sind es auch, die aus seinem Werk bleiben werden. Einer seiner Gedichtbände trägt den selbstironischen Titel „Das Ende der Landschafts­malerei“, denn eigentlich betrieb Jürgen Becker zeitlebens und hauptsächlich Landschaftsmalerei in Versen, nur unter den Bedingungen seiner Gegenwart, Dorfrand mit Tankstelle heißt daher ein anderer Gedichtband. Dieses Beobachten und Aufzeichnen hat, wenn man das Gesamtwerk überblickt, etwas Manisches und Süchtiges, viele Bücher wirken wie ein einziger langer Fluss der Wahrnehmung, zwischen »Swingtime« und »Altenbeken«, wie die Einleitungsgedichte eines weiteren Bandes heißen.

Es scheint, als hätte dieses Protokollieren beruhigend auf ihn gewirkt, als ver­sicherte er sich damit der Abwesenheit von Katastrophen. Nach der alten Gemütslehre wäre er Melancholiker oder Phlegmatiker gewesen. Das sind Leute, die kein Unheil anrichten und lieber staunend aus dem Fenster schauen. Zu starke Gefühle sind gefährlich, vielleicht hatte er auch das in der Kindheit gelernt. Daraus könnten sich manche eigenwilligen Aussagen erklären wie der letzte Vers eines Gedichts:

Hoffnung, dass man nichts spüren wird bis zum Sterben

Wie sein Verlag Suhrkamp heute mitteilt, ist Jürgen Becker am vergangenen Donnerstag im Alter von zweiundneunzig  Jahren in Köln gestorben.

Kurz vor seinem Tod hat er dieser Zeitung noch einige bislang unveröffentlichte Gedichte überlassen, von denen wir hier drei abdrucken.

Photo 43

Seine Mutter hat ihm eine Pudelmütze
gestrickt, die er nicht aufsetzen kann,
wenn er die Jungvolkuniform trägt.
Er weiß auch nicht, was
für ein Glück er hat, nur
ein kleiner Junge zu sein.

 

Altes Haus

Noch bewohnbar das Haus,

fünf Klingelknöpfe,
drei mit einem Namen,
namenlos bleiben zwei.

Und schließlich ein unbetiteltes Gedicht:

Vor einem Wiedersehen sich fragen
ob es noch einen Sinn hat
warum man sich aus dem Weg gegangen ist
was man erwarten kann was man erhofft
ob man die alten Sachen nochmal ausgraben soll
was man Falsches gesagt oder getan hat
ob man etwas nicht richtig verstanden hat
warum kein Telefonanruf keine Ansichtskarte
ob man zuvor noch zum Friseur gehen sollte
was man erzählen kann und was lieber nicht
wie es denn weitergehen wird
was dabei überhaupt herauskommen soll
ob man nicht lassen soll wie es ist
was man anziehen soll
wie es ist wenn man sich besser nicht wiedersieht

Dirk von Petersdorff, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2024

Lebenslauf

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope +

DAS&DGeorg-Büchner-Preis 1 & 2

Gedenktage

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Heinrich Vormweg: Ein Poet in seinen Umgebungen
NRW literarisch, Heft 5, 1992

Walter Hinck: Vielleicht das letzte Glänzen: Sinfonien, Radiostimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1992

Sabine Küchler: Die Entdeckung des „multiplen“ Ich
Der Tagesspiegel, 10.7.1992

 

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Schirmacher: Geräusche, Gerüche und Signale
Rheinische Post, 8.7.1997

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Armin Ayren: Die Wirklichkeit als Sprache
Stuttgarter Zeitung, 10.7.2002

Nico Bleutge: Erinnerungsreise
Süddeutsche Zeitung, 10.7.2002

Hannes Hintermeier: Der Landschaftsmaler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2002

Beatrix Langner: Selbstporträts mit dem Rücken zum Betrachter
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2002

Jochen Schimmang: Ockerfarben in Deutschland
Frankfurter Rundschau, 10.7.2002

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Zum 80. Geburtstag von Jürgen Becker

Cornelia Geissler: Mit dem Rücken sieht man schlecht
Frankfurter Rundschau, 10.7.2012

Norbert Hummelt: Leise landen die Abendmaschinen
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2012 

Lothar Schröder: Autor Jürgen Becker wird 80
Rheinische Post, 10.7.2012

Gisela Schwarz: Jürgen Becker wird 80 Jahre alt
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2012

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Frank Olbert: In diesen neuen alten Gegenden
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2017

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Mohr: Prosa als fehlender Rest
literaturkritik.de, Juli 2022

Martin Oehlen: Jürgen Becker – zwei Bücher zum 90. Geburtstag: „Fast täglich hört eine Epoche auf“
Frankfurter Rundschau, 7.7.2022

Jens Kirsten: „eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“
Palmbaum, Heft 75, 2022

eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“ – Der Dichter Jürgen Becker im Gespräch mit Wolfgang Haak und Jens Kirsten
Radio Lotte, 5.7.2022

Nico Bleutge: Der riesige Rest
Süddeutsche Zeitung, 8.7.2022

Michael Hametner: Jürgen Becker: „Ich habe nicht viel Phantasie“
der Freitag, 9.7.2022

Hans-Dieter Schütt: Das siehst du nie wieder!
nd, 8.7.2022

Michael Braun: Der große Lyriker Jürgen Becker wird 90 Jahre alt
Die Rheinpfalz, 8.7.2022

Gregor Dotzauer: Die Schatten des früher Gesagten
Der Tagesspiegel, 9.7.2022

Joachim Dicks: Jürgen Becker zum 90. Geburtstag
NDR, 10.7.2022

Thomas Geiger: Zeitmitschriften in Lyrik und manchmal auch Prosa
Berliner Zeitung, 8.7.2022

Herbert Wiesner: Von Altlasten und künftigen Katastrophen
Die Welt, 10.7.2022

Nadja Küchenmeister: Die Wirklichkeit macht immer mit – Jürgen Becker – Texte mit Ein- und Ausstiegsluke

Christel Wester: Landvermesser – Zum 90. Geburtstag des Autors Jürgen Becker

Terry Albrecht: Neues in der Wiederholung: Der Dichter Jürgen Becker wird 90

Corinne Orlowski: Wie weiter, was sprechen – Eine Begegnung mit Jürgen Becker