Jorge Luis Borges (1899–1986)

Jorge Luis Borges (1899–1986)

Ich war gerade in Spanien unterwegs und im Kastell von Verín angekommen, als Borges starb. Das war merkwürdig, denn man hatte die seltsame Vorstellung, daß er nie sterben könne oder daß er schon lange tot sei, auch das ist möglich. Seine eigenen Spekulationen über dieses Thema machten ihn in den letzten Jahren zu einem mythischen Schemen, der über die Welt geisterte, der erzählte, er wolle erlöst werden »von dem Ding, das Borges heißt«. Vielleicht war ihm das nun gelungen oder, wer weiß, hatte er nie existiert, oder hatte ihn jemand geträumt oder hatte ein ganz anderer uns alle geträumt und ihn dazu, er lebte nun einmal, wenn er lebte, in einer Welt gnostischer Optionen. Zeitungen waren vielleicht nicht das Medium, um darüber Gewißheit zu erlangen, denn auch wenn man ihn sein Leben lang in allen möglichen Zeitungen als Autor oder Interviewten finden konnte, so hatte ich auch einen Ausspruch von ihm gelesen, daß er während des Zweiten Weltkriegs erwogen habe, seine Gewohnheit, keine Zeitungen zu lesen (weil man besser die Klassiker lesen sollte), aufzugeben, aber dann doch beschlossen habe, jeden Tag ein paar Seiten Tacitus über einen anderen Krieg zu lesen, den punischen. Der liegt zwar lange zurück, zugegeben, aber in einer Welt wie der seinen, in der es zu einer endlosen Wiederholung von Ereignissen kommt oder kommen kann, keine unlogische Entscheidung, wozu noch der Vorteil des besseren Stils bei einem – seiner Ansicht nach – im Grunde gleichen Inhalt kommt. Wahr oder nicht wahr – er liebte Scherze, seine Verachtung entbehrte jedoch nie eines philosophischen Hintergrunds.

Wie dem auch sei, ich hatte keinen Plutarch oder Thukydides bei der Hand, der mir über das Sterben großer Männer berichten konnte, und so kaufte ich in den Tagen nach seinem Tod die Zeitungen, die ich fand, als bedürfe die Nachricht einer Bestätigung. Schließlich starb jemand, mit dem ich und der mit mir eine dreißig Jahre währende Beziehung gehabt hatte. Diese beiden Beziehungen konnten erst aufhören, wenn ich starb, auch das hatte ich von ihm gelernt. Dreißig Jahre war es her, seit ich, einem Instinkt, einer Intuition folgend, die ersten gelben Bändchen der Reihe La Croix du Sud gekauft hatte, mit denen Roger Caillois ihn in Europa eingeführt hatte.

Jetzt sitze ich hier in diesem spanischen Kastell mit all den Zeitungsausschnitten, und einer wie der andere sind sie nach diesen anderthalb Monaten toter als jede Zelle oder Seite des Schriftstellers. Es ist eine recht komische Sammlung, bestehend aus dem, was ich in den Kiosken fand, The Observer, Le Monde, Libération, La Repubblica, La Vanguardia, Frankfurter Allgemeine. Doch das sind Namen, und hatte ich nicht von ihm gelernt, ich müsse auf die Bedeutung dahinter horchen? Darin wird aus dieser Reihe eine ganz andere: Der Betrachter, Die Welt, Die Befreiung… die Namen werden allegorisch und die Reihe eine verborgene Biographie. Auf allen Seiten Photos des blinden Teiresias mit seinem Stock und darum herum Fetzen des Netzes, das er zu Lebzeiten gesponnen hatte, jetzt übersetzt in die Slogans der Journaille, und auch diese Reihe liest sich wie ein seltsames, explodiertes Gedicht: Welch Licht im Labyrinth. Quella Luce nel Labirinto.

Der melancholische Minotaurus. Il Minotauro malinconico. Aber vielleicht hat er nicht existiert. Ma forse non esisteva. Unzählbar waren die Formen und Male, die ich starb. Innombrables furent mes formes et mes morts. Ich war Homer; bald bin ich niemand, wie Odysseus; bald bin ich jedermann: dann bin ich tot. J’ai été Homère; bientôt, je serai Personne, comme Ulysse; bientôt, je serai tout le monde: je serai mort. Er hat sich unsichtbar gemacht. Se ha hecho invisible. Unermüdlicher Träumeweber. Tireless weaver of dreams.

Der Bibliothekar von Babel. Le bibliothécaire de Babel. Die Tod, ich will nichts anderes als sie (ich lasse die weibliche Form stehen, CN), ich will sie ganz, abstrakt. Die beiden Daten auf dem Grabstein. La mort, je ne veux qu’elle et je la veux totale, abstraite. Les deux dates sur la dalle. Und, als hätte diese Zeitung sechzig Jahre lang einen Wettstreit mitverfolgt, auf der Titelseite der Libération; Jorge Luis Borges a trouvé la sortie: BORGES HAT DEN AUSGANG GEFUNDEN! Es sind immer die anderen, die die Geschichten beenden, aber nur, wenn die Geschichten es wert sind, beendet zu werden. Und dann ist man erst richtig tot:

Jeder geht mit deinen Worten hausieren. Danach folgt das Fegefeuer der völligen Abwesenheit. Die Presse hat einen ausgequetscht. Für den Tod gibt es keine Steigerung, nur für den öffentlichen: Wenn die Nachricht ausgeschlachtet ist, ist der Tote plötzlich viel toter. Wer ihn bisher nicht las, liest ihn auch jetzt nicht, die anderen sitzen mit den Worten da, die keine Fortsetzung mehr finden werden. Darin tritt das Audensche Gesetz in Kraft: Die Leser sind der Schriftsteller geworden, der Schriftsteller wird seine Leser.

Mich verbindet mit ihm, was einen mit geliebten Toten verbindet. Man kann sich nicht vorstellen, daß sie wirklich tot sind. In den merkwürdigsten Augenblicken denkt man: Wie er sich wohl fühlt? Wie denkt er darüber? Gestern abend gab es im Fernsehen eine Sendung über die Ketzerbewegung des Priscillian im vierten Jahrhundert, eine Bewegung, die sich zum großen Teil in den Landschaften abspielte, in denen ich mich gerade aufhalte, im nordspanischen Galicien, das, wie Irland, ohnehin für alles prädestiniert ist, was mit Geheimnissen und Zauberei zu tun hat. Der Film war zum Teil in einer herrlichen, riesengroßen Bibliothek gedreht worden, sprach von zeitgenössischen lateinischen Kommentaren des Sulpicius Severus, von gnostischer Symbolik und Zahlenmystik, vom Tod, der für die Kelten nichts weiter als eine Reise war, und plötzlich kam mir der Gedanke, das alles sei Fiktion, eine von Borges’ eklektischen Phantasien, allesamt erfunden und erlogen, diesen lateinischen Kommentar von Severus habe es nie gegeben, kurz und gut, ich hatte Augenblicke von entzücktem Zweifel, weil alles genausogut nicht wahr hätte sein können, weil er Fiktion nun einmal wie Wirklichkeit behandelte, am liebsten mit möglichst vielen falschen Quellen und Autorennamen, so daß die Wirklichkeit in einigen seiner Kommentare in ein Gespinst von Erfindung oder zumindest von Zweifel eingehüllt war.

Zu meiner Zeit gab es an niederländischen Gymnasien keinen Philosophieunterricht, das einzige, was in meinem Fall dem in etwa nahekam, war in der katholischen Schule der Religionsunterricht mit solch merkwürdigen kasuistischen Exzessen wie: »Wenn jemand einen Autounfall hat, und er liegt an einer Straßenecke im Sterben, und ein exkommunizierter Priester kommt vorbei, und der Sterbende will beichten, ist diese Beichte dann trotzdem gültig (Antwort: ja)« – aber solche scholastischen Haarspaltereien halfen mir ebensowenig wie die thomistischen Gottesbeweise, um Borges’ auf Berkeley und Hume basierenden Hirngespinsten über Sein und Nicht-Sein auch nur einigermaßen gewachsen zu sein. Später gewöhnt man sich daran (wiewohl nie ganz), aber ich erinnere mich noch gut an dieses schwindelerregende Angstgefühl bei der Vorstellung, die Wirklichkeit, die sichtbaren Dinge, bestünden einzig und allein dank unserer Wahrnehmung, jedenfalls als Borges in einem anderen Essay behauptete, das sei noch nicht alles, auch die Zeit existiere nicht. Das Argument, das er anführte, stammte von Sextus Empiricus, der in seinen Adversus Mathematicos, XI, 197, abstritt, es gebe eine Vergangenheit, weil sie bereits jetzt nicht mehr da sei, während es gleichzeitig auch keine Zukunft geben könne, weil die noch nicht gekommen sei. Außerdem behauptete er, die Gegenwart müsse teilbar oder unteilbar sein, um zu existieren. Aber sie sei nicht unteilbar, denn dann habe sie keinen Anfang, der mit der Vergangenheit, und auch kein Ende, das mit der Zukunft verbunden sei.

Teilbar sei sie andererseits aber auch nicht, denn dann bestünde sie ja aus einem Teil, der bereits vorbei sei, und einem der erst noch kommen müsse. FOLGLICH gebe es sie nicht, und weil es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, gebe es keine Zeit.

Das jagte mir Angst ein. Er schrieb dann zwar, daß neben der unverkennbaren Verzweiflung ein geheimer Trost im Leugnen der Aufeinanderfolge stecke, die die Zeit ist, im Leugnen des Ichs und des astronomischen Universums, doch ich hatte Probleme damit, weil sich diese hochfliegenden Gedanken mit meinem Gefühl vermischten. Das nahm sogar physische Formen an: Ich glaubte, von der Welt herunterzufallen, etwas, das, wenn weder die Welt noch ich existierten, natürlich nur so schlimm wäre, wie ich es fand. Das Problem war, daß man sich bei Borges mit seinen ersonnenen Zitaten aus echten Enzyklopädien, seinen ersonnenen Autoren mit ihren folglich ebensowenig existierenden Büchern nie sicher sein konnte, ob es jemanden wie Sextus Empiricus wirklich gegeben hatte, und selbst wenn das der Fall war, ob dieser das Buch, aus dem der Meister zitierte, wirklich geschrieben hatte. Erst viel später begriff ich, daß dies alles Ernst war, allerdings Ernst einer ganz besonderen Art, Teil einer großen literarischen Verzauberung, daß er all diese Elemente und Betrachtungen, in denen er sich auch noch so gerne selbst widersprach, dazu benutzte, um seine Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Das Nicht-Existieren, das immer wieder von neuem Existieren-Müssen, der Doppelgänger, der Spiegel mit dem anderen oder einem anderen Anderen oder gar keinem darin, das alles gehörte zu dem, was er perplejidad nannte, den andauernden Zustand der Perplexität, aus dem das Leben besteht. Borges’ Universum ist eines, von dem man, vorausgesetzt, man neigt von Natur aus dazu, sehr leicht eine Weile mitgesogen wird, und auch wenn es Zeiten im Leben gibt, in denen das Bedürfnis nach »Wirklichkeit« größer ist als der ängstliche Genuß des Perplexen, so zieht es einen doch immer wieder zu diesem Œuvre zurück wie jemanden mit Höhenangst zum Abgrund. Um der Herausforderung des Schwindels willen, des Flirts mit dem Nicht-Sein, des allumfassenden Zweifels, der ein Stimulans ist, der Negation, in der man um so schärfer hervortritt.

Einmal habe ich ihn gesehen, vor langer Zeit, in den sechziger Jahren, in der Westminister Hall in London. Ich war eigens dafür nach London gereist. Er saß da, sehr souverän, ein Orakel, mit diesen seltsamen Kopfhaltungen des Blinden, der auf Geräusche reagiert. Später las ich bei Cabrera Infante, daß der unangreifbare Meister sich mit einem Riesencognac Mut angetrunken hatte. Wir durften Fragen stellen, schriftlich. Ich fragte, weil mich das damals sehr beschäftigte, was er von Gombrowicz halte, der ja bereits seit vielen Jahren als freiwilliger Exilant im selben Buenos Aires lebte. Darauf gab er keine Antwort. Gombrowicz’ Philosophie des Unfertigen, Unvollendeten, Unausgereiften als höchstem Zustand kann ihn auch nicht sehr angesprochen haben. Ich saß da als Leser, und Leser wollen immer, daß Schriftsteller, die sie bewundern, sich auch gegenseitig bewundern, daß Nabokov Dostojewski liebt und Krol [Gerrit Krol: niederländischer Erzähler und Essayist (1934 geboren). Als früherer Programmierer und Systemanalyst verbindet es in seinem Schaffen Mathematik und Literatur und findet dabei zu einer kaleidoskopischen Erzählweise, bei der die logische Ordnung immer wieder aufgehoben ist. Zu seinen wichtigsten Werken zählen De chauffeur verveelt zich / Der Chauffeur langweilt sich, Het gemillimeterde hoofd und De ziekte van Middleton.] Slauerhoff. Aber so läuft es nicht.

Gut. Ende. Es ist dem Spinner so vieler Mythen gelungen, er, wie er wußte, hat uns eingesponnen, er ist selbst ein Mythos geworden. Leb wohl, alter Fächer. Das sagte Bashō auf seiner letzten Wanderung zu einem alten Dichter, den er, wie er wußte, nie mehr wiedersehen sollte. Wo ich jetzt bin, ist es Nacht, der galicische Himmel voller Sterne. Dort irgendwo muß er sein, denke ich, denn magisches Denken ist ganz primitiv. Den Nobelpreis hat er nie erhalten, und das ist schade für diesen Preis, doch er verdient etwas Besseres. Jemand muß einen Stern nach ihm benennen. Er ist der einzige Schriftsteller, zu dem das wirklich passen würde, und dann gibt es doch noch etwas, das Borges heißt.

ÜBER BORGES
A una moneda

Rio de la Plata, der Sturm schlägt
das Wasser. Du, der Du noch sehen kannst,
schreibst die verschwindende Stadt in den Namen
ihrer Buchstaben, die Mündung,
den Ozean. Winterreise des Dichters.

Doch was treibt dich?
Welche deiner vielen Seelen
nimmt die Münze aus deiner Tasche
und wirft sie vom höchsten Deck,
ein Lichtblitz
in das Schwarz der Wellen?

Oder warst Du es doch wieder nicht selbst,
sondern der andere, der auch Borges hieß,
der Spiegelgänger aus dem geträumten
Gedicht?

Zweimal, sagst du, hast du der Geschichte
des Planeten etwas hinzugefügt,
zwei unaufhörliche Reihen, parallel,
und wer weiß unendlich,
deine Existenz, und die deiner armseligen Münze,
die jetzt in tiefster Finsternis
die Zauberreihe beginnt

des Vergehens,
und das nicht weiß.

Du aber doch, daher bist du neidisch
und glücklich. Deine geheime Lust war
Einsicht in was uns bedingt. Wiederkehr,
Unendlichkeit, Fantasien zum Spielen.

So warfst du dein Werk
in die Zeit,
Worte, einmal begonnen als Nichts,
als Gedanke, als Satz, als Gedicht,
Skriptur, verwandelt in Bücher
aus Marmor, und dann wandernd
und sinkend, von tausend ungeborenen Augen
berührt, wieder zurück zu Worten ohne Dichter,
und darüber hinaus,
Inschrift in Stein, allmählich unlesbar,
Gelispel von Fragmenten,
das Rätselecho
einer Vorzeit,

bis die eine, letzte
Erlösung,

Abwesenheit
geglückt.

Cees Nooteboom, aus Cees Nooteboom: Tumbas. Gräber von Dichtern und Denkern, Schirmer/Mosel 2006