Die Literatur hatte ihn gerettet

Die Literatur hatte ihn gerettet

– Burnside gehörte zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern. Er hat ein grosses lyrisches Werk geschaffen und in autobiografischen Romanen sein eigenes bewegtes Leben dargestellt. –

John Burnside ist in jungen Jahren durch viele Höllen gegangen. Aber einmal war er schon fast im Himmel. Das war im Frühjahr 2020, als er einen Herzstillstand erlitt. Die Ärzte hatten ihn bereits aufgegeben – oder vielmehr: Sie überliessen ihn dem Schicksal. Halb lebte er noch, halb war er schon tot, »auf der anderen Seite des Schlafs«, wie Burnside den Zustand nannte. Bereits sah er sich von aussen und betrachtete sich selbst als kolossalen Leichnam von oben.

Still sei es gewesen, erzählte er vor ein paar Wochen, als wir uns in Zürich begegneten. Kein Mensch war mehr um ihn, nur hellstes Licht, das von ihm selber ausging. Dann kam er zurück ins Leben.

Er überraschte die Ärzte, niemand hatte damit gerechnet, dass er noch einmal aufwachen würde. Es folgten vier geschenkte Jahre, in denen er allmählich ins Leben und zum Schreiben zurückfand. Nun ist John Burnside am vergangenen Mittwoch im Alter von 69 Jahren nach kurzer Krankheit gestorben, wie sein britischer Verlag mitteilte.

Noch bis vor ein paar wenigen Wochen korrespondierten wir miteinander. Mit spürbarer Erleichterung berichtete er Anfang April, dass gerade das Semester an der University of St Andrews zu Ende gegangen sei, wo er kreatives Schreiben unterrichtet hatte. Und er schrieb von Krankheitsfällen in der Familie und dass er sich auf den Sommer freue. Über eigene gesundheitliche Beschwerden schwieg er vornehm. Freilich waren sie evident: Sein Herz war überfordert mit dem riesigen Körper. Es reichten ein paar Treppenstufen, und er war ausser Atem.

Er nahm es hin und scherzte über seine Kurzatmigkeit, als wir jüngst zusammen durch Zürich gingen und die Gräber von Joyce und Canetti besuchten, die er zu sehen gewünscht hatte. Bei der Gelegenheit erzählte er, dass er unter freiem Himmel bestattet sein möchte, damit die Natur wieder von ihm Besitz ergreifen könne. Nicht erst seit der Nahtoderfahrung hatte er ein verschärftes Bewusstsein von der Endlichkeit des Daseins gewonnen. Schon als Jugendlicher stand ihm die Vergänglichkeit des Menschen drastisch vor Augen.

Sein Vater war ein zu Gewaltausbrüchen neigender Alkoholiker, der im besseren Fall jeweils tagelang verschwand, im schlechteren jedoch seine Familie quälte, wie John Burnside in dem autobiografischen Buch Lügen über meinen Vater erzählt. Die Not des Kindes wird so gross, dass es eines Nachts mit einem Messer dem Vater auflauert und ihn zu töten beabsichtigt. Dass der Vater seinerseits Höllenqualen durchlitten hatte – er kam als Findelkind zu wechselnden Pflegeeltern – erfährt der Sohn erst, als der Vater, »ein Niemand aus Nirgendwo«, stirbt.

John Burnside geht da längst durch seine eigenen Höllen. Auch er verfällt wie der Vater dem Alkohol und später den Drogen, dann erkrankt er an einer Psychose und muss hospitalisiert werden. Es rettete ihn, wie er selbst sagte, die Literatur. Den dunklen Phantasmen der Psychose widersetzte er sich mit den heiteren Geistern der Kunst: Er schuf seine imaginären Welten, um sich aus den Abgründen der entfesselten Psyche zu befreien.

1955 in der schottischen Stadt Dunfermline in einem Haus ohne Bücher geboren, lernt das Kind noch vor der Schulzeit in alten Illustrierten zu lesen. Es kennt die Bibel auf Lateinisch auswendig, als andere Kinder seines Alters erst mit Mühe überhaupt lesen. Und als die Familie in die englischen Midlands umzieht, wo der Vater in einer Kohlegrube eine Anstellung findet, trifft der 10-Jährige endlich auf eine vernünftige Bibliothek. Er beginnt zu lesen, was ihm in die Hände kommt, angefangen mit Charles Dickens, es kommen die Russen hinzu, schliesslich die Franzosen.

Später studiert er Englisch und Europäische Literatur in Cambridge, arbeitet ein paar Jahre als Analyst und Softwareingenieur in der Computerbranche. Sein Herz aber hat er längst an die Literatur verloren, noch ehe er ernsthaft zu schreiben beginnt. Schriftsteller wird er eher zufällig. Einem Bekannten zeigt er Ende der 1980er Jahre ein paar Gedichte, die dieser postwendend in seinem Verlag herausbringt. Burnside gewinnt damit gleich seinen ersten Literaturpreis, dem viele weitere folgen sollten, darunter der Petrarca-Preis in Deutschland und der renommierte britische T.-S.-Eliot-Prize.

Es war die bereits als Kind erfahrene existenzielle Fremdheit, die den Dichter geformt hat: dieses Gefühl eines Findelkindes, das sich vom Vater auf ihn übertragen hatte, das Wissen, nicht dazuzugehören, zurückgewiesen zu werden sogar vom eigenen Vater, der dem Kind einmal gesagt hatte, es wäre besser gewesen, es sei nicht geboren worden. Und dazu fügt sich das Glück dessen, der in der Sprache und in der Dichtung eine Zuflucht gefunden hat.

Der Bildungshunger des Kindes hat den Erwachsenen bis zuletzt begleitet. Man spürte es noch, wenn er von seinen Studenten in St Andrews erzählte: Die eigene frühe Entdeckerlust lebte in der Leidenschaft des Lehrers fort, den nichts mehr freute als die Neugier der jungen Menschen.

Mochte Burnside auch eine akademische Ausbildung erhalten haben, so war seine umfassende Bildung dennoch die eines Autodidakten und eines Dilettanten im besten Sinne des Wortes. So wie er als Kind die Bibel gelesen hatte, so hatte er die Kunst, Musik oder Dichtung studiert: Sie eröffneten sich ihm als Kosmos weniger des Wissens denn der Schönheit.

Ob er in seinen autobiografischen Werken sein Leben erzählte oder imaginäre Welten erschuf wie in den Romanen Die Spur des Teufels oder Glister: Stets ging es Burnside darum, unerschrocken die Abgründe des Daseins zu durchschreiten und ihre Geheimnisse zu entwirren. Doch ganz bei sich war John Burnside, wenn es das für einen wie ihn überhaupt gab, allein in der Natur. Sei es im Gedicht, wo er das Wunder der Schöpfung mit dem Zauber der Sprache noch einmal erschuf, oder sei es, wenn er im Garten sass und ins Weite sah: dahin, wo alles herkommt und wohin alles zurückkehrt.

Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2024