Helle Frist vor dunklem Grund – das Hauptwerk des tschechischen Schriftstellers Jiří Gruša war seine Existenz
– Unter den literarischen tschechischen Dissidenten ist Jiří Gruša (1938–2011) für den deutschsprachigen Leser schwer fassbar geblieben. Bekannt machte ihn nach 1989 seine Karriere als Diplomat. Eine Werkausgabe verleiht seinem Schaffen endlich klarere Kontur. –
Die sechziger Jahre, die heute zu Recht als das goldene Zeitalter der tschechischen Literatur und Kultur der Nachkriegszeit gelten, wären nicht ohne die veränderten politischen Bedingungen möglich gewesen, die der XX. Parteitag der UdSSR 1956 mit seiner Kritik des Stalinismus schuf. Diese öffnete zuerst nur einen kleinen Spalt zum freien Denken, ermöglichte aber die Auseinandersetzung mit der bestehenden Form des Sozialismus. Es bot sich die Chance auch für eine Entideologisierung der Kultur. In der Tschechoslowakei, die über eine breite Basis überzeugter kommunistischer Kultureliten verfügte, setzte bald ein Diskurs über Alternativformen eines sozialistischen Systems ein, wenn auch unter der lockeren Aufsicht der Partei mit ihren Reformkommunisten. Und hier meldete sich auch die junge Generation zu Wort. Zu ihren wichtigsten Repräsentanten sollten in den nachfolgenden Jahren Václav Havel und Jiří Gruša werden.
Die in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre Geborenen teilten nicht den prokommunistischen Nachkriegs-Enthusiasmus der Vorgängergeneration, zu deren repräsentativen Namen etwa Pavel Kohout, Ludvík Vaculík oder Antonín Liehm gehören. Sie wollten die Wirklichkeit des sozialistischen Alltags vom ideologischen Ballast befreien und zum Thema ihres Denkens und Schaffens machen. Sie wollten nicht länger die Rolle der gehorsamen Zaungäste des Systems spielen, die ihnen die Älteren zugedacht hatten.
Wie in der tschechischen Tradition üblich machten unter diesen Jungen zuerst Dichter auf sich aufmerksam: Josef Hanzlík, Ivan Wernisch, Petr Kabeš, Jiří Pištora und Jiří Gruša, mit seinem 1962 erschienenen Gedichtband Torna (Tornister). Mit leichter Wehmut meldete sich schon in den Gedichten seines Debüts das Schlüsselmotiv seines Schaffens, der Tod, der das Leben als dessen Bestandteil ständig umkreist und der Dauerhaftigkeit beraubt. Denn: »die welt besteht aus lauter begräbniskränzen«, und »selbst der stein wird schimmelig«. Das sind die Konstanten des Ephemeren um uns herum und in uns selber. Hinter dieser Tiefendimension seiner Existenz tritt dem Leser die starke Persönlichkeit des Dichters entgegen, die sich bei aller Skepsis mit voller Energie und vollem Willen gegen die Verhältnisse dieser Welt zum Handeln verpflichtet fühlt. Brüskierende Groteske und verführerischer Eros werden dabei freilich auch nicht fehlen. Wahrhaftigkeit und Mut sind zwei Kategorien, die das Leben von Jiří Gruša bis zu seinem Tod bestimmen werden.
Unter den jungen Schriftstellern, die inzwischen in der Monatsschrift Plamen ihre Gedichte veröffentlichten, war Gruša der politischste Kopf. Er war es auch, der auf dem Schriftstellerkongress von 1963 in Absprache mit seinen Dichterkollegen eine Art Manifest seiner Generation vortrug. Man grenzte sich darin zwar von der Vorgängergeneration ab, aber ohne sie zu verurteilen – schon das war ein neuer Ton. Und dann folgte der Satz:
Als die Idole 1956 fielen, hatte dies zur Folge, dass wir den Sozialismus als etwas entdeckten, auf das man voll und ganz setzen kann.
Der Reformprozess indes, als dessen erhofftes Ziel sich immer mehr der demokratische Sozialismus abzeichnete, sollte sich letztlich nur als eine »helle Frist« erweisen, wie Jiří Gruša seinen 1964 erschienenen Gedichtband betitelte. Dass sich auch für seine Generation das Fenster der intellektuellen und künstlerischen Möglichkeiten schliessen würde, ahnte damals noch niemand.
Nicht zuletzt gehörte zur kulturpolitischen Bewegung in der tschechischen Gesellschaft dieser Jahre auch die Wiederentdeckung des deutschen literarischen Prag. Diese erreichte ihren Höhepunkt zweifellos 1963 in der Kafka-Konferenz in Liblice, welche die Rückkehr des Landes nach (Mittel-)Europa signalisierte und zu einem Markstein der beginnenden Demokratisierung wurde. Der Beitrag von Jiří Gruša zu diesem Prozess liegt in seiner kongenialen Übertragung von Rilkes Duineser Elegien. Das erste Signal stellte dabei sein Bekenntnis zu Rilke dar, 1964 in der Monatsschrift Plamen in dem »kleinen confiteor« mit der Übersetzung des Gedichtes »Orpheus, Eurydike, Hermes« aus den »Sonetten an Orpheus«. Rilkes Werk bezeichnete Gruša darin als einen »Bau, dessen Türe man immer noch durchstreiten muss«. Seine Elegie z Duina, so der tschechische Titel, konnten allerdings erst im Jahr 1999 erscheinen.
Am 21. August 1968 endete die »helle Frist« für Grušas und Havels Generation, als sowjetische Panzer in Prag und Bratislava einrollten. Knapp acht Jahre waren ihnen für eine freie Entwicklung ihrer literarischen Arbeit gegönnt gewesen. Der mit so vielen Hoffnungen verbundene Prager Frühling war unwiederbringlich zu Ende. Und bald setzte der Prozess der sogenannten »Normalisierung« ein – im letzten Moment noch konnte Jiří Gruša 1969 seinen dritten Gedichtband Cvičení mučení (»Folter üben«) veröffentlichen. Seine beiden Prosawerke Mimner und Dotazník (»Der 16. Fragebogen«) brachten ihm aber in den folgenden Jahren Schwierigkeiten, 1978 gar eine Verhaftung. Als Dissident hielt sich Gruša mit verschiedensten Berufen über Wasser. Als ihm 1980 das amerikanische MacDowell-Colony-Literaturstipendium zugesprochen wurde, rechnete er wohl nicht mit Emigration. Von Ludvík Vaculík vor der Rückkehr gewarnt, machte er auf der Rückreise halt in Bonn und bekam am nächsten Tag die Nachricht, dass ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entzogen worden sei.
Damit begann der zweite Abschnitt seines Lebens, in dem – frei mit Rimbaud gesprochen – das Hauptwerk des Dichters Jiří Gruša seine eigene Existenz wurde. Zuerst ging es ihm um die Eroberung des Deutschen. Und »die Errettung des Dichters auf dem Ufer der anderen Sprache«, wie es Sarah Kirsch bezeichnete, gelang – mit einem zarten böhmischen Unterton. Grušas deutsche Gedichte brauchen den Vergleich mit seinen tschechischen nicht zu fürchten, wie der 8. Band der Werkausgabe zeigt, die im Klagenfurter Wieser-Verlag erschienen ist. Schade nur, dass in der hervorragenden Übertragung von Eduard Schreiber nicht sein komplettes tschechisches dichterisches Werk im 7. Band der Ausgabe zum Vergleich vorliegt. Nun hat das Schaffen Jiří Grušas auch für deutschsprachige Leser eine klare Kontur bekommen. Neben den Herausgebern, Hans-Dieter Zimmermann und Dalibor Dobiáš, kommen darin, die politischen und kulturellen Zusammenhänge erklärend, auch viele Wegbegleiter zu Wort, wie Peter Demetz, Harald Hartung, Sarah Kirsch, Sylvie Richterová, Hans-Peter Riese, Eduard Schreiber, Milan Uhde und Antje Vollmer.
Es war Jiří Grušas Pflichtgefühl, das ihn nach der politischen Wende von 1989 auf Bitte Václav Havels in den diplomatischen Dienst führte: 1990 bis 1998 amtierte er als Botschafter der Tschechischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland, dann bis 2004 in Österreich. In der Folge wurde ihm dann 2005, als erstem Ausländer, der Posten des Direktors der Diplomatischen Akademie in Wien und zugleich (bis 2009) das Präsidium des internationalen PEN zugesprochen. Wie die zwei Bände Essays und Studien deutlich machen, und vor allem wie der Band 10 der Werkausgabe, Reden und Gespräche, zeigt, erfüllte er alle diese Aufgaben mit Eleganz, aber auch Aufrichtigkeit und Mut.
Alena Wagnerová, Neue Zürcher Zeitung, 13.4.2020
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