Proletarische Mystik

Proletarische Mystik

– Eine Neuauflage zum 100. Geburtstag des Lyrikers Jesse Thoor. –

Keine Erwähnung in Literaturkalendern des Geburtstags-Overkill-Jahres 2005, keine Gedenkveranstaltung in Österreich, obwohl er in Lienz begraben ist und sich sein Nachlass nicht nur in Marbach, sondern auch in der Exilbibliothek des Literaturhauses Wien befindet, keine neue Publikation: Der Lyriker Jesse Thoor, der in seinem kurzen Leben vom frivolen Bänkelsänger zum katholischen Mystiker mutierte, ist gründlich vergessen. Als Peter Karl Höfler am 23. Jänner 1905 in Berlin in der Familie eines oberösterreichischen Handwerkers geboren, lernte er früh die Härten des proletarische Lebens und dann, als der den Alkohol verfallene Vater in der alten Heimat noch einmal neu beginnen wollte, den bäuerlichen Katholizismus kennen. Ausgebildet als Zahntechniker und Feilenhauer, begab er sich auf Wanderschaft quer durch Europa; wieder zurück in Berlin wurde er Mitglied der KPD und des Rotfrontkämpferbundes. Mit den Nazis war er in etliche Kämpfe verwickelt und kletterte auf Schornsteine, um die rote Fahne zu hissen. Als es ihm zu heiß wurde, kam er bei seiner Tante in Wien unter. 1938 folgte eine abenteuerliche Flucht über Preßburg und Brünn nach Prag, von wo er mit einem der letzten Flugzeuge nach London gelangte. Zuvor hatte die von Thomas Mann in Zürich herausgegebene Zeitschrift Maß und Wert sechs Sonette von Thoor veröffentlicht, das brachte ihm auch Unterstützung bei der Flucht und ein Stipendium.

Jesse Thoor, so nannte er sich ab dieser Zeit – nach dem Propheten Jesaja (in lutherischer Eindeutschung) und dem germanischen Donnergott. Prophetisches Vokabular findet sich bis in die Titel (Lieder und Rufe heißt seine letzte Sammlung) reichlich in den späteren Gedichten, oft aber unkonventionell, wenn etwa eine mit Gott beginnende universale Seligpreisung der Natur in dem Gedicht »Selig ist…« in die Zeile mündet:

Selig sind die Propheten… die schweigen und ausruhen dürfen.

Formstrenge Sonette waren Jesse Thors Lieblingsform, aber auch klangintensive Einfachheit gelang ihm, etwa in diesem Gedicht:

IM DEZEMBER

Da ruft einer und schreit:
Hochherrliche Zeit!
Ich bin blank und bloß.
Aber mein Engel ist groß.
Ich bin arm und bleich.
Aber mein Engel ist reich.

Daneben finden sich auch andere Töne: »Sieben Jahre schon blutet mein Herz und meine Hände ruhn. / Nichts mehr habe ich. Nichts mehr bin ich. Was soll ich tun?« – so endet ein ›Gebet‹ aus der Londoner Zeit. In England war er auch einige Zeit interniert, weil ihn ehemalige ›Parteifreunde‹ als Naziagenten denunziert hatten. »Von meinen ärgsten Feinden aber nenne ich nur drei: – / Das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen der Partei«, so beginnt einer seiner lyrischen »Nachsätze«.

Im Sommer 1952 kam Jesse Thoor nach Österreich, um Freunde in Matrei zu besuchen und seine Tante wiederzusehen. Als sie ankam, brach er zusammen und lebte nur mehr wenige Tage. Er hatte zuvor eine kleine Bergtour gemacht – ein Leichtsinn nach einem Herzinfarkt kurz davor. Und so ist er in Lienz begraben. Nur einen Band Sonette ist zu Lebzeiten erschienen. Otto Mauers Zeitschrift Wort und Wahrheit brachte 1953 Gedichte von Thoor, 1956 und 1958 erschienen postume Publikationen. 1965 hat kein geringerer als Michael Hamburger Das Werk herausgegeben und kommentiert. Zum 100. Geburtstag ist nur eine Publikation greifbar: In der Bibliothek Suhrkamp wurde die 1975 von Peter Hamm herausgegebene Sammlung Gedichte neu aufgelegt. Hamms Nachwort ist einer der wichtigsten Kommentare zu Thoors Lyrik, wenn auch die Parallelen mit Simone Weil gelegentlich an den Haaren herbeigezogen sind. Hamm hat sein Nachwort »neu durchgesehen« und dabei offenbar nur eine einzige neue Literaturangabe eingefügt. Leider hat er auch die 1986 erschienene Thoor-Biografie von Gerdamaria Thom nicht zur Kenntnis genommen und nicht einmal den Irrtum korrigiert, Thoors Vater stamme aus der Steiermark. Eine lieblose Nachauflage – und doch ein unschätzbares Verdienst, dass es von Thoor überhaupt etwas zu lesen gibt.

Cornelius Hell, Die Furche, 27.1.2005

Lebenslauf

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