»Ich bin Poetist«
– Der tschechische Dichter Ivan Blatný war lange Zeit totgeschwiegen oder vergessen. Heute erlebt er bei jüngeren Lesern eine Renaissance. Die meisten Texte von Ivan Blatný entstanden in der Psychiatrie – auf Zetteln, die eine Krankenschwester aufbewahrte. –
Mehr als drei Jahrzehnte verbrachte er in Kliniken und Heilanstalten – und trotzdem darf man sich Ivan Blatný als erfüllten Menschen vorstellen. Von einem England-Aufenthalt war der gefeierte Dichter nicht in die Tschechoslowakei zurückgekehrt; die Kommunisten hatten die Macht übernommen.
Die Flucht ins Irrenhaus habe Blatnýs Freiheit als Dichter gerettet, sagt sein Biograph Martin Reiner:
Sie hätten ihm nach 1948 verboten, Gedichte zu schreiben – weil er nicht schrieb, wie es gewünscht war. Er hätte Selbstmord begangen oder wäre ins tschechische Irrenhaus gekommen, was weitaus schlimmer gewesen wäre als die Aufenthalte in den englischen Anstalten.
Martin Reiner gilt als der »Blatnýologe« schlechthin. Er führt ein Archiv und hat zum 100. Geburtstag eine kleine Ausstellung in der Mährischen Landesbibliothek Brünn konzipiert. Auch einen umfangreichen Roman hat Reiner über Blatný geschrieben. 2014 wurde dieser Roman zum tschechischen Buch des Jahres gewählt, sein Titel Der Dichter – eine Collage über Blatnýs Leben zwischen Poesie und Politik.
Als Martin Reiner den Dichter kurz vor dessen Tod 1990 in England besuchte, traf er auf Misstrauen und Angst. Selbst nach der Samtenen Revolution wollte Blatný nicht so recht glauben, dass ihn niemand mehr verfolgen würde, erklärt Martin Reiner:
Er war nicht verrückt im korrekten Wortsinn. Er war allerdings psychisch sehr fragil. Ein Melancholiker, schwer melancholisch. Er hatte sich daran gewöhnt, in kompletter Isolation zu leben. Dort in den englischen Anstalten war er umgeben von einer Menge wirklich psychisch Kranker, so dass er sich dort selbst eine Schutzzone schaffen musste in seinem Inneren, in seinen Erinnerungen.
In den englischen Einrichtungen bahnen sich Blatnýs Erinnerungen ihren Weg durch Gedichte. Erinnerungen an existentielle Erfahrungen in Brünn, der Stadt seines frühen dichterischen Ruhms.
Wie als fernes Echo tauchen Motive früher Gedichtbände auf, gestreift werden zentrale Wegmarken der tschechischen Avantgarde – Blatnýs künstlerische Vergangenheit, der Poetismus, Surrealismus und die Gruppe 42 mit ihrer Alltags- und Stadt-Ästhetik klingen nach. So schreibt Blatný:
Ich bin Poetist
spiele mit Farben und Klängen
mit Spiegeln
kaufe Bilder geschminkter Clowns.
Auf Zetteln, selbst auf Toilettenpapier kritzelt Blatný diese Texte. Aufbewahrt werden sie auf Bitten tschechischer Freunde von einer englischen Krankenschwester, die die Zettel an den Exilverlag 68-Publishers in Kanada schickt – so entsteht der Band Alte Wohnsitze.
Es folgt die Hilfsschule Bixley. Darin vermischen sich die Namen einstiger Weggefährten mit Elementen aus dem gleichförmigem Leben in der Psychiatrie mit Protagonisten englischer Fernsehserien, Filmen und banalen Tageserlebnissen – fragmentarisch, frei oszillierend zwischen Sprachen und Stilebenen.
Alles wird Stoff für Poesie. Und Poesie zum »Allheilmittel für alle Krankheiten«.
Poetry is a panacea for all illnesses
die Marx Brothers und ihr Eidotterfight
Der Dichter spricht in verschiedenen Sprachen
unten im See bei den Wassergeistern.
Martin Stöhr:
Wenn einer da nachts auf der Toilette sitzt und Gedichte schreibt, und nichts hat außer seinem Stift, seinen Zigaretten und seiner Schokolade – und all die Jahrzehnte seine Erinnerungen aufschreibt an ein kurzes Glück, seine Kindheit, die Stadt und die Freunde, die Zeit bis 1948, als sich alles änderte, dann ist das ungemein berührend. Ich denke, das zieht viele heute wieder zu seiner Lyrik. Das hat keine Analogie. Da ist eine ganz bestimmte Authentizität, etwas, wofür er mit seinem Leben bürgt. Für die Lyrik hat er alles gegeben.
Martin Stöhr hat die Wiederveröffentlichung der vier Brünner Gedichtbände Blatnýs aus den 1940er-Jahren betreut. Pünktlich zum Jubiläum erscheinen sie.
Stöhr ist aber auch selbst Dichter. Sein in Brünn entstandener Gedichtband Vorübergehende Wohnsitze verneigt sich schon im Titel vor Blatný und seinen Alten Wohnsitzen von 1979.
Martin Stöhr:
Meine Generation hat eine unglaubliche Situation erlebt. Wir waren 20, als durch die Samtene Revolution auf einmal ganz neue verlegerische Freiheiten entstanden. Plötzlich waren wir konfrontiert mit einem literarischen Erbe, das lange Jahrzehnte unterdrückt und verdrängt war. Es eröffnete sich mit einem Schlag eine freie poetische Welt, die vor dem Krieg existiert hatte. Ich bin froh, dass Blatnýs Lyrik so lebendig geblieben ist, auch nach so vielen Jahren. Ihm ist etwas ganz Außergewöhnliches gelungen.
Olga Hochweis, Deutschlandfunk Kultur, 16.1.22019