Das Recht zu dichten, so, wie der Baum Blätter treibt
– Ihren Lesern, den Freunden ihrer wunderbaren Poesie, erscheint ihr Tod als jähe, schockierende Nachricht. Inger Christensen ist zwei Wochen vor ihrem vierundsiebzigsten Geburtstag gestorben. –
Als Inger Christensen 2006 den Siegfried-Unseld-Preis erhielt (siehe auch: »Vollkommenheit: Christensen erhält Unseld-Preis«), las sie aus ihrem Gedichtzyklus Das Schmetterlingstal. Sie las auf Deutsch und Dänisch und bemerkte, wer kein Dänisch spreche, könne sich unterdessen ein bisschen wundern: ein Gedicht dauere eine Minute. Das letzte dieser zauberischen Sonette, die einen Kranz bilden, schließt mit den Zeilen:
Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen
vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.
Der Dichterin erscheint der Tod als schwarzer Apollo mnemosyne. Ihren Lesern, den Freunden ihrer wunderbaren Poesie, erscheint der Tod als jähe, schockierende Nachricht. Inger Christensen ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am vergangenen Freitag gestorben, zwei Wochen vor ihrem vierundsiebzigsten Geburtstag.
Wer Das Schmetterlingstal noch einmal in die Hand nimmt oder die Aufnahme auf der gleichnamigen CD hört, versteht nun auch den Untertitel anders: »Ein Requiem«. Der Sonettenkranz ist ein vorweggenommenes Requiem auf die Dichterin selbst. »Es ist der Tod, der sich mit eigenen Augen / sich selber in mir sehen will«, heißt es einmal. Und wirklich ist Schmetterlingstal, das auf Dänisch 1991 erschien, die letzte ihrer großen Dichtungen geblieben, ein Abschied, dessen Tragweite wir erst jetzt begreifen.
Inger Christensen hat sich nie ins Rampenlicht gedrängt. Die freundliche, zurückhaltende Frau hat ihr Dichtertum nie nach außen gekehrt, schien fast hinter ihrer Poesie zu verschwinden. Sie sagte:
Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selbst.
So einfach ist das – oder so kompliziert. Man darf nur die Selbstgewissheit nicht überhören, die aus dem Als-ob ihrer Annahme spricht: Sie führt geradewegs ins Zentrum.
Der Weg dahin freilich brauchte seine Zeit. Inger Christensen, 1935 im jütländischen Veijle geboren, stammte aus kleinen Verhältnissen. Im Gymnasium war sie das einzige Kind aus der Unterklasse. Sie wurde Volksschullehrerin und hätte vielleicht weiter nebenher zarte, diskrete Gedichte geschrieben, wäre da nicht die Begegnung mit der Sprachtheorie Noam Chomskys gewesen, die sie als eine Initiation erlebte. Also die Begegnung mit der Idee einer angeborenen Sprachfähigkeit und der Annahme universaler Regeln der Satzkonstruktion, die es ermöglichen, Sätze ins Unendliche zu generieren. Chomskys Sprachsicht, so Christensen, habe ihr ein phantastisches Glücksgefühl gegeben, nämlich die »unbeweisbare Gewissheit, dass die Sprache die unmittelbare Verlängerung der Natur ist. Dass ich dasselbe Recht hatte zu sprechen, wie der Baum, Blätter zu treiben.« Es muss wie eine Ermächtigung gewesen sein – mit Konsequenzen für Leben und Werk.
Nach zwei schmalen Gedichtbänden und einem Roman erschien 1969 ein langes Gedicht mit dem nicht eben attraktiven Titel det, Das. Aber die Resonanz war enorm. Die Erstauflage von fünfzehntausend Exemplaren war bald vergriffen – und das bei einem hochkomplexen Poem. In einem kleinen Land wie Dänemark. Und das in einer Zeit, als allenthalben das Ende der Literatur, der Tod der Poesie ausgerufen wurde. Zugegeben: Auch Inger Christensen war vom Krieg in Vietnam aufgewühlt, von Studentenprotest und Flower Power. Auch sie sympathisierte mit R.D. Laings Vorstellung, wonach die Schizophrenie geeignet sei, gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen.
Die Dichterin hatte in det das Chaos nicht nur gesehen und beschrieben. Sie hatte es bewältigt – durch das musikalisch-mathematische Prinzip ihres Schreibens. Denn das war ihre von Chomsky ausgelöste Inspiration: die Sprache nach den Gesetzen der Mathematik zur musikalischen Komposition wachsen zu lassen – so, wie der Baum Blätter trägt. In det erscheint die Acht als die Zahl der Welt, des Universums, und, in ihrer liegenden Gestalt, als Symbol des Unendlichen. In det wird sie zum mathematischen Regelsystem der Textblöcke, zu einer Art Zwangssystem. Doch das Gesetz schlägt in Freiheit um. Die poetische Transgression öffnet den Kerker der Alltags- und Begriffssprache. Sie schafft eine neue Welt.
Det ist ein lyrischer Schöpfungsbericht über die Entstehung von Sprache und Welt, ein Gedicht über alles, ein Weltgedicht. Ein Sprachprogress mit Allusionen zu Dantes Divina Commedia. Die Dichterin empfindet sich hier auf der Mitte ihres Weges, »nel mezzo del cammin«. Freilich muss sie ihren eignen Vergil abgeben, im Textlabyrinth. Sie ermutigt sich mit der Devise:
meine leidenschaft: weiterzugehen.
Auf diesem leidenschaftlich eingeschlagenen Weg entstanden einige Divertimenti. So Das gemalte Zimmer, eine phantastische Erzählung, angeregt durch die Mantegna-Fresken in Mantua. Oder der heitere Lyrikzyklus Brief im April, der mit Permutationen arbeitet, wie sie Olivier Messiaen in einigen seiner Kompositionen benutzte.
Dann aber erschien alphabet, Christensens bedeutendstes Werk, die Essenz ihrer Arbeit. Eine wachsende Schar von Lesern hat alphabet als Offenbarung empfunden: als ein Stück auflodernden Lebens und Explosion zugleich. Als ein Stück Natur und als ausgepichteste Kunst. Woher diese Wirkung? alphabet bringt Mathematik und Linguistik, Sprache und Biologie zusammen. Zum einen die Folge des Alphabets, zum anderen die Fibonacci-Folge, nach der sich jedes folgende Glied aus der Summe der vorangehenden errechnet. Christensen verbindet beide Prinzipien ingeniös. Den Buchstaben des Alphabets werden der Fibonacci-Regel entsprechend Zeilen zugeordnet – die entsprechenden Verse steigen darum rapide an. Beim Buchstaben n mit 610 Zeilen bricht das Gedicht ab – zwölf Buchstaben vor Ende des Alphabets. Das Gedicht ist nicht bloß ein Baum, der Blätter treibt, es wuchert auch wie der Krebs, es explodiert wie das Weltall, ehe es wieder zu nichts wird. Alphabet ist ein Werk über die Apokalypse. Die Schreiberin beobachtet die Katastrophe, aber auch eine Schar Kinder, die Schutz in einer Höhle sucht, und eine Frau, die nachsieht, »ob wasser in dem verkohlten brunnen ist«. Diese Frau ist Christensen selbst. Die zahlenkundige Dichterin hat den Brunnen ausgemessen, und das lebensspendende Wasser ist die Poesie, von der wir trinken dürfen.
Wie viel Hoffnung ist das? Christensen hat einmal über den »Geheimniszustand« geschrieben. Sie verspricht dort nicht zu viel: nichts, was Dichter nicht leisten können. Sie spricht von den zufälligen Worten, die notwendig werden können und einen Geheimniszustand ergeben, »in dem die innere und äußere Welt sich befinden, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen«. So viel kann Poesie leisten.
In jungen Jahren glaubte Inger Christensen, ihren Beruf verfehlt zu haben. Irgendein kleines Tier hätte sie erforschen sollen, etwa die Spinne. Aber schon damals dachte sie offenbar an Netze, an Gewebe, also an Texte. Ihre ersten Bände trugen so schlichte Titel wie lys (Licht) und graes (Gras). Gras beginnt mit der Benennung einer Hoffnung, die die späte Christensen so wohl nicht mehr fassen konnte. Er lautet:
Die Tauben wachsen auf dem Felde
Aus Erde sollst du wieder erstehen.
Das liest sich wie ein wunderbarer Grabspruch.
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.1.2009
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