Schamanin, Heilerin, Dichterin

Schamanin, Heilerin, Dichterin

– Ein schmales, schönes Werk auch der großen Ungeheuerlichkeiten: Eine Erinnerung des Verlegers und Schriftstellers Michael Krüger an seine verstorbene Freundin Ilse Aichinger. –

Ilse Aichinger war eine Spezialistin für Zaubersprüche. Wenn alles nicht half, mussten Pillen her. Ich habe mehrere Male erlebt, dass Bauern auf dem Traktor vor dem Haus hielten und laut nach Pillen riefen, die Ilse dort aufbewahrte, wo andere ihre Kräuterdosen hatten. Jeder normale Mensch musste in der Gegend der deutsch-österreichischen Grenze, wo Ilse mit ihrem Mann Günter Eich und den zwei Kindern lebte, von den Fallwinden heftige Kopfschmerzen kriegen, aber Ilses Kopfschmerzen hatten auch noch tiefere Gründe. Sie konnte in Sphären schalten und walten, die anderen unzugänglich waren.

Als wir ihr im Engadin, in einem alten Castell, den Petrarca-Preis verliehen, ging plötzlich das Licht aus. Tiefe Dunkelheit. Mazzino Montinari, der Nietzsche-Herausgeber und als solcher mit den Problemen von Hell und Dunkel vertraut, kam mit einer flackernden Kerze aus der Küche ins Festzimmer, andere zogen heftig an ihren Zigaretten, um etwas Licht zu verbreiten.

Ich las mit stoischer Ruhe meine Laudatio zu Ende, und dann kam der Auftritt von Ilse: Mit ihrer wienerisch eingefärbten Stimme las sie im Schein der Kerze ihre kurzen Gedichte, dass einem Schauer den Rücken hinunterliefen. Halb Schamanin, halb Heilerin, las sie das Gedicht von Georg, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt und sich anhören muss: Gib mir den ganzen Mantel, nicht nur eine Hälfte. Da ging ihre Stimme hoch, nein, sie hob etwas an, wurde einen Bruchteil lauter und bestimmter, während sie normalerweise nicht viel mehr als ein Flüstern war.

Sie war keine Ketzerin wie Christine Lavant und kannte nicht die Exaltationen der Ingeborg Bachmann. Ihr schmales, schönes Werk ist gleichmäßiger und ruhiger, auch da, wo es die großen Ungeheuerlichkeiten des Jahrhunderts zur Sprache bringt. »Warum hast du nie wieder einen Roman geschrieben?«, habe ich sie einmal gefragt, da sagte sie einen Vierzeiler auf und behauptete, dass sei der zweite Roman, auf diese Weise hätte sie hundert Romane geschrieben. Wer konnte da widersprechen?

Als nach Günter Eich ihr Sohn Clemens starb, auch er ein wunderbarer Schriftsteller, dem der Tod mit brutaler Geste den Stift aus der Hand geschlagen hatte, spürte man, wie schwer das Leben ist, wenn man es nicht, wie die meisten von uns, leichtnehmen kann. Sie konnte nichts leichtnehmen. Umso erstaunter war ich, als ich den kleinen Band mit ihren Film-Feuilletons las, den die Edition Korrespondenzen in Wien publiziert hatte: Offenbar fielen im dunklen Raum der Wiener Kinos alle Gewichte von ihr ab, so dass sie wie ein junges Mädchen schwärmen konnte. Ein junges intelligentes Mädchen, sollte man vielleicht sagen. Ein junges intelligentes jüdisches Mädchen. Eine der besten Dichterinnen des nicht nur kurzen, sondern unseligen zwanzigsten Jahrhunderts.

Michael Krüger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.2016

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Teilen. Eine persönliche Erinnerung von Michael Krüger
 
Iris Radisch im Gespräch mit Gabi Wuttke zum Tod Ilse Aichingers »Eine vor Energie nur so berstende Literatur« (mit O-Ton und Gedicht HEU)
Gedenktage

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Andreas R. Batlogg: Dass es den Ort einer anderen Existenz gab
Die Furche, 8.11.2001

 

Zum 85. Geburtstag der Autorin:

Peter Mohr: Alles Komische hilft mir
literaturkritik.de, November 2006

 

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Sabine Rohlf: Es geht immer um Genauigkeit
Frankfurter Rundschau, 1.11.2011

Paul Jandl: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur
Hamburger Abendblatt, 1.11.2011

Peter Mohr: Das Komische macht mich glücklich
titelmagazin.com, 2.11.2011

Anja Hirsch: Unerkundbar, undurchschaubar
Deutschlandfunk, 1.11.2011

 

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Susanne Stephan: Verse, verborgen
poetenladen, 2016

Bettina Steiner: Ilse Aichinger: Es gilt das genauere Wort
Die Presse.com, 30.10.2016

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Helmut Böttiger: Die Seufzer der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2021

Christian Schacherreiter: Die subtile Poesie der Verhängnisse
OÖNachrichten, 30.10.2021

Michael Braun: Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin Ilse Aichinger
Badische Zeitung, 29.102.2021

Tilman Krause: Die Frau, die als erste über den Holocaust schrieb
Die Welt, 1.11.2021

Peter Mohr: Schreiben ist kein Beruf
literaturkritik.de, November 2021
(auch im titel-kulturmagazin.net, 1.11.2021)

Christian Metz: Schreiben müsste punktueller sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2021

Magnus Klaue: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Der Tagesspiegel, 1.102.2021

Günter Kaindlstorfer: Ilse Aichinger und die machtvolle Ohnmacht der Worte
Deutschlandfunk, 1.11.2021

Michael Wurmitzer: Ilse Aichingers 100. Geburtstag in Linz: Widerstand mit Worten
Der Standart, 23.10.2021

Gerhard Zeillinger: Ilse Aichinger: Schreiben als existenzielle Verflechtung
Der Standart, 1.11.2021

Matthias Greuling: Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film
Wiener Zeitung, 1.11.2021

Teresa Präauer: „Autorinnen feiern Autorinnen“: Ilse Aichinger
Die Furche, 3.11.2021

Achim Engelberg: Schreiben nach Auschwitz – zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger
piqd.de, 1.11.2021

Es begann mit Ilse Aichinger 1921–2021. Erzählen vom Ende her und auf das Ende hin
Onlineausstellung kuratiert von Christine Ivanovic und Sugi Shindo

 

Katrin Krämer: Der Stichtag – 100. Geburtstag von Ilse Aichinger

 

Vera Teichmann: »Ein Abschiedlicht auf allem«. Zum 100. der Schriftstellerin Ilse Aichinger. Teil 1
 
Vera Teichmann: »Ein Abschiedlicht auf allem«. Zum 100. der Schriftstellerin Ilse Aichinger. Teil 2
 
Vera Teichmann: »Ein Abschiedlicht auf allem«. Zum 100. der Schriftstellerin Ilse Aichinger. Teil 3
 
 
100 Jahre Ilse Aichinger. Mit Thomas Wild, Nikola Herweg und Ulrich von Bülow
 
Es begann mit Ilse Aichinger (1921–2021) Christine Ivanovic präsentiert die digitale Ausstellung in Wien