Bienekerl,

Bienekerl,

das (Allerleih, Anputz, Mauerkraut, Trollblume, Traumduft) einjährig. Familie der Dokumentariden. Riechpflanze.

Die dunkelblauen Blüten, die sich über Nacht nicht schließen und schwach leuchten, duften nach unausgelüfteten Träumen. Alle Blätter grundanständig und schwach behaart, decken die Wirklichkeit ab. Stengel am Boden kriechend.

Er sucht sich die extremsten Stellen aus, um Wurzel zu fassen, wächst in Mauerritzen, in Verlagen, Rundfunkanstalten, Redaktionsbüros, in Interviews als Fragezeichen, das sich meist selbst beantwortet, und als Ausrufezeichen in diversen Akademien und Jurys. Bei aller dokumentarischen Strenge, ja Hartnäckigkeit, die selbst die Wiederholungen nicht scheut, ist ihm jedoch eine schlesische Heiterkeit eigen. Er macht alles zu seiner Heimat und wo ihm das nicht gelingt, unterwandert er das Gelände. Rudolf Hartung schreibt in seinem ›Tagebuch eines Pflanzenfreunds‹, 34. Folge: »Wie gern stehe ich vor dem Bienekerl. Sein Duft, sein unverhofftes Blau schärfen meine Sensibilität. Gärtner haben immer auch etwas von einem Lyriker, sind doch ihre Depressionen Blütentraume.«
Früher wurden in Schlesien die getrockneten Blüten der Pflanzen schichtweise in Töpfe gelegt und Kochsalz und Gewürz dazwischen gestreut; die so erhaltene Masse war ein beliebtes Räuchermittel, das die Innerlichkeit vom Schweißgeruch des Pathos befreit. Wegen seines Duftes ist das Bienekerl fast immer von Schmarotzern aller Art befallen, die ihn auch bestäuben, eine Tatsache, die sein Vorkommensgebiet nur noch vergrößert. Das Dokumentarische, aus dem die Pflanze gewöhnlich ihre Blüten zieht, wird durch diese nicht einfach widergespiegelt, sondern noch um die Nuance der Unerheblichkeit bereichert.

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983