Heißenbüttelose,

Heißenbüttelose,

die knochige (Dürrschnabel, Arpa nuova, vielstimmiger Schweigerich) zweijährig, stark dörrend. Familie der Logomythen. Aus den getrockneten Stengeln werden Stricke gedreht.

Skelettfingrige Blätter. Nur ein Hüllblatt aus Scham am Blütenstand. Blüten nahezu farblos bis zartrosa, ebenso riechend. Stengel nur andeutungsweise.

Erweckt den Eindruck, als würde sie ihren eigenen Blüten mißtrauen und bevorzugt einen tiefgründigen und lockeren Lehmboden sowie semantische Beschränkungen. Auch findet man sie im Wörtermüll, in Brachfeldern der Sprache, in Nachtstudios und zwischen den Scherben gescheiterter Gedankensprünge. Sie entwässert ihren Standort und trocknet selbst schnell aus, um als Symbol der Sprachlosigkeit zu überwintern. Bestäubt wird sie von unentwegten Philologen, die den Hiatus für eine Hieroglyphe halten. Nachts leuchten die Blüten schwach, zu schwach jedoch, um als Wegweiser dienen zu können. Die Stricke aus den getrockneten Stengeln sind äußerst robust. Heinrich Vormweg schreibt in seinen ›Briefen über die sicherste Methode, Pflanzen zu trocknen‹: »Die Seile aus den Stengeln der Heißenbüttelose eignen sich vorzüglich zu turnerischen Übungen am Reck der ungewissen Logik. Sie sind selbst für Flaschenzüge zu gebrauchen, die das Orphische aus dem Nichts emporziehen.« Das wenig gefällige Aussehen der Pflanze wird immer wieder hervorgehoben. So notiert Rudolf Hartung in seinem ›Tagebuch eines unentwegten Pflanzenfreunds‹ (7. Teil, vom 5. Teil an erschien das Werk im Selbstverlag): »Die ausgetrockneten, aber auf ihre Weise noch immer sehr fruchtbaren Heißenbüttelosen vor meinem Fenster im Kurort erinnern mich, wie bedürfnislos die Natur sein kann. Ich spüre selbst Sprachlosigkeit aufkommen. Wie leicht läßt sich doch daraus ein Strick drehen.«
In Friesland macht man Besen aus den getrockneten Heißenbüttelosenstengeln. Sie sollen besonders gut kehren, aber auch viel Staub aufwirbeln. Neuerdings hat die Samenhandlung Klett & Söhne in Stuttgart Ableger der Heißenbüttelose für den Bildungsgebrauch vorrätig. Sie liefern sie in schönen Töpfen, wobei es schwer zu entscheiden ist, was den Preis bestimmt.

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983

Lebenslauf

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook +

KLGIMDb + Archiv 12Internet Archive + Kalliope +

DAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2

Gedenktag

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: Weil der Versuch die einzige Gewähr ist
Merkur, Heft 397, Juni 1981

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ulf Stolterfoht: Wie ich Helmut Heißenbüttel einmal fast begegnet wäre
Stuttgarter Zeitung, 18.6.2021

Peter Mohr: Poet im Sprachlabor
literaturkritik.de, Juni 2021

Willi Winkler: Erschreckend modern
Süddeutsche Zeitung, 20.6.2021

Paul Jandl: Die deutsche Sprache kam ihm immer spanisch vor
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2021

Beate Tröger: Ein Radikaler
der Freitag,  2.7.2021