Kaum je ein Zugehörigkeitsglück

Kaum je ein Zugehörigkeitsglück

– Zu Unrecht gehört sie zu den weniger bekannten Autoren Deutschlands. Ihr Revier war die Spreewelt rund um Erkner. Deren herber Glanz findet sich in ihren schönsten Gedichten. Nun ist Helga M. Novak »äußerster Gewalt« gewichen. Ein Nachruf. –

Geboren in Köpenick, aufgewachsen in Erkner, gestorben in Rüdersdorf – das klingt nach den Eckdaten eines beschaulichen Lebens. Tatsächlich aber ist keine dieser mit biographischen Brüchen geschlagenen Generation der jetzt Ende Siebzigjährigen so sehr umhergetrieben worden wie die Dichterin Helga M. Novak, die erst in den letzten Jahren, bedingt durch Alter und Krankheit, zu einer fragilen Ruhe gefunden zu haben schien.

Eine wie sie wird es nicht wieder geben, schon deshalb nicht, weil sich die Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, nicht wiederholen werden. Dafür brauchte es, neben der enormen Begabung, einen Geburtsort am südöstlichen Rand von Berlin, da, wo die Stadt in die Mark übergeht und sich mit ihren Seen und Kiefernwäldern tief in die Seele einbrennt, so dass er für die von dort Vertriebenen ein Leben lang Sehnsuchtsort bleibt; brauchte es eine Kindheit im zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg, Bombenhagel und brennende Schulen, brauchte es die mit Neugier durchsetzte Angst vor den mit Panzern und Panjewagen in die Stadt einrückenden Soldaten der eben noch bei den Seelower Höhen kämpfenden und vor Hass auf alles Deutsche glühenden Sowjetarmee.

Dazu brauchte es zwei aufeinanderfolgende Diktaturen, wobei die zweite eine Weile als Überwindung des die erste hervorbringenden Gesellschaftssystems missverstanden werden kann, so dass Wut und Scham umso größer sind, wenn man erkennen muss, einer Chimäre aufgesessen zu sein, einer Täuschung, einem Fremd- und Selbstbetrug; und brauchte es nicht zuletzt das Unglück der unehelichen Geburt und die niemals heilende Wunde, die durch die Freigabe zur Adoption geschlagen wurde.

 

Einige der Geheimnisse hat sie noch aufgeklärt

Wie wenig Helga M. Novak über ihre Abkunft wusste, wie verzweifelt sie etwas darüber zu erfahren versuchte und wie vergeblich diese Anstrengung blieb (so dass immer etwas Irrlichterndes in ihrem Reden darüber war), lässt sich im ersten ihrer drei großen autobiographischen Bücher, Die Eisheiligen, nachlesen, aber auch, verklausulierter, immer wieder in den Gedichten: »Ich bin eine Brut, die in anderem Nest wuchs.« Dass auch Mystifikation dabei war, erfährt man im gerade erschienenen dritten Band ihrer autobiographischen Bücher, Im Schwanenhals, in dem sie, ohne dass das Unglück damit geringer würde, einige der Geheimnisse aufklärt.

Dass sie im alten Westen nicht so bekannt ist, wie sie es hätte sein können, oder so, wie ihre Freundin Sarah Kirsch es war, hat wohl seinen Grund darin, dass sie sich immer wieder entzog. Mit fünfzehn meldete sie sich selbst auf einem Internat an, das zugleich Kaderschule war. Einer lupenreinen DDR-Karriere hätte nichts mehr im Weg gestanden, wäre das trotzige Kind nicht mit jener scharfen Beobachtungsgabe geschlagen gewesen, die es den Widerspruch zwischen Propaganda und Wirklichkeit rasch erkennen und bald auch spitzzüngig kommentieren ließ.

Wer wissen möchte, wie junge Menschen, die nach der Erfahrung mit dem Nazifaschismus ihre Hoffnung auf den Sozialismus setzten, die ersten DDR-Jahre erlebten, lese Vogel Federlos, das zweite ihrer autobiographischen Bücher, das eine solche Fülle von Material enthält, dass ich mich beim Wiederlesen fragte, wie es ihr gelungen ist, alles das über die Zeit zu retten. Parteitagsbeschlüsse, Lehrpläne, Auszüge aus Zeitungen, Reden und Flugblättern, alles hat Eingang in dieses verrückte Buch gefunden.

 

Der Tragödie zweiter Teil

Als sie 1957 zum ersten Mal in Island ankommt, wohin sie sich nach einer ekelerregenden Treibjagd der Partei auf sie und ihre Kommilitonin Brigitte Klump (Das rote Kloster) mit ihrem Geliebten Steinar, einem isländischen Mitstudenten, eingeschifft hat, ist sie nicht etwa erleichtert über die geglückte Flucht, sondern hadert mit sich und kehrt schließlich, bereit, sich den staatlichen Sanktionen zu unterwerfen, in die DDR zurück, so dass der Tragödie zweiter Teil ihren Anfang nehmen kann, der acht Jahre später mit ihrer Ausweisung und erneuten Flucht nach Island enden wird.

Wir haben uns im Sommer 1967 kennengelernt. Da war sie zweiunddreißig Jahre alt. Ich arbeitete, gerade von der Schule gekommen, im Luchterhand Verlag. Im Frühjahr war ihr zweiter Gedichtband erschienen, Colloquium mit vier Häuten. Und nun machte sie auf dem Rückweg von Griechenland nach Island in Berlin Station, um mit Klaus Roehler (bei dem ich wohnte) an ihrem ersten Prosabuch zu arbeiten, Geselliges Zusammensein, für das sie später den Bremer Literaturpreis erhielt, dessen Preisgeld ihr die Rückkehr nach Deutschland ermöglichte.

Braungebrannt, schlank und, da mit kleinem Gepäck reisend, immer im selben, aus einem gestreiften Wollstoff geschneiderten Minikleid tänzelte sie durch die von der Studentenrevolte aufgeheizte Halbstadt.

 

Fremdheit, Unsicherheit, Misstrauen

Es war aber auch das erste Mal, dass sie nach ihrer Ausweisung den Ostteil der Stadt wieder betrat, und das erste, was sie tat, war, von einer Telefonzelle aus die Freunde anzurufen. Und, tatsächlich, innerhalb kürzester Zeit schaffte sie es, alle zusammenzutrommeln. Alle kamen in die Wohnung von Wolf Biermann, zu der wir zusammen mit Kurt Bartsch, den wir als Ersten angerufen hatten, vorgegangen waren: Sarah und Rainer Kirsch aus Halle, Fritz Rudolf Fries aus Petershagen; dazu Robert Havemann.

Hierher, in diesen Kreis, denke ich heute, wenn ich das damals entstandene berühmte Foto von Roger Melis sehe, gehörte sie, hier empfand sie, die lebenslang unter dem Gefühl der Fremdheit, der Unsicherheit und des Misstrauens litt, wie vielleicht später nie wieder das Glück der Zugehörigkeit.

Wenn ich heute in meinem nur drei S-Bahn-Stationen von Erkner entfernt liegenden Wohnort ihren Namen nenne, ernte ich kaum mehr als ein Achselzucken. Jüngere Leute, selbst solche, die mit Literatur befasst sind, antworten: Nee, nie gehört. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sie in der DDR totgeschwiegen wurde, kein einziges ihrer Bücher ist dort erschienen, so dass man noch nicht einmal sagen kann, sie sei vergessen worden.

Nein, die Autorin Novak existierte und existiert einfach nicht: wenn man so will, ein Sieg der den Staat überdauernden Totschweigestrategie des MfS, und als nach dem Untergang der DDR ihre Bücher endlich erscheinen konnten, gab es an den Erfahrungen der Ausgewiesenen und Weggegangenen, deren bloße Existenz ein stiller Vorwurf war, kein Interesse mehr.

Dabei ist sie die große Dichterin der Mark, die Einzige, die Peter Huchel das Wasser reichen kann. Wie er in der Havellandschaft verwurzelt ist, ist sie es in der Spreewelt rund um Erkner. »Löcknitz Werlsee Peetzsee Möllensee und Grünheide“, das ist ihr Revier, ihre Gegend, der sie die schönsten (fast immer aus Trennungsschmerz geborenen) Gedichte gewidmet hat. Hierher ist sie, „ausgerüstet mit einem falschen Pass«, immer wieder zurückgekehrt, hier, schwor sie, »bleibe ich und weiche nur noch äußerer Gewalt«.

Der Fall ist nun eingetreten. Am Vormittag des Heiligen Abends ist Helga M. Novak im Krankenhaus des nur wenige Kilometer von Erkner entfernt am Kalksee liegenden Örtchens Rüdersdorf im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben.

Gert Loschütz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.12.2013

Lebenslauf
Gedenktage

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Michael Braun: Schöne Verwilde­rung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005

Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005

Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010