Wiesenböll,
der (Gewissensuhr, Rheinischer Papst, Zeigefinger, Nobelle) ausdauernd bis wuchernd. Familie der Importanzeen. Heilkraut.
Goldgelbe Blüten mit weißen Punkten. Wächst der Wiesenböll in Schwarzerde, nehmen die Punkte eine rötliche Färbung an. Stengel aufrecht, kräftig, oben reich verzweigt. Blätter faustförmig und schüttelfroh, schwach gezähnt. Meist vielblütig.
Der Wiesenböll wächst meist massenhaft ziemlich überall, gleichsam vor den Augen der Nation, am liebsten angesichts weltweiter Probleme in von der katholischen Kirche links liegen gelassenen Dringlichkeiten und in der Aktualität als prophetischer Zeigefinger. Er ist von einer außerordentlichen Empfindlichkeit, die jeden Elefanten im Porzellanladen bereits beim ersten Tritt registriert. Schon bei leichtem Wind gibt er einen leisen Glockenton von sich, der bei Sturm zu einem mächtigen unüberhörbaren Getöse anschwellen kann. Fruchtbildung – er trägt knallerbsengroße Früchte –, jedoch kann seine Vermehrung auch durch Wurzelausläufer und Ableger erfolgen. Die Samenhandlung Kiepenheuer & Witsch kann kaum alle Bestellungen berücksichtigen, so sehr ist der Wiesenböll schon zum allgemein anerkannten deutschen Universalpflänzchen geworden. Er fehlt in keinem Strauß. Einer sicheren Heiligsprechung entging er, indem er seine Wurzeln aus der Schwarzerde herausnahm.
Eine Abkochung des Krauts, der zur Hälfte Wein beigefügt ist, dient als Mittel gegen politisch bedingte Verstopfungen und gegen reaktionäres Aufstoßen, auch erweitert sie den deutschen Horizont um eine rheinische Meile und stärkt das Rückgrat bei Gewissenserforschungen. Der Wiesenböll wirkt bei allen Therapien zunächst einmal entkrampfend. Hans Mayer schreibt in seinem Sammelwerk ›Pflanzenfreundschaften: Erfahrungen mit Importanzeen‹: »Im deutschen Lebenskrampf ist der Wiesenböll eine wahre Erlösung. Er gehört in die Hausapotheke eines jeden Volksschullehrers Pfarrers und Politikers.« Walter Boehlich dagegen äußert sich kritischer: »Ich selbst finde, daß die Suggestionskraft seines Namens eine wesentlich stärkere Wirkung hat als er selbst.« In der Kölner Gegend trugen früher die Schulkinder bei Fronleichnamsprozessionen Wiesenböllsträuße. Als sie begannen, damit die Erwachsenen zu bewerfen, wurde der Brauch von der katholischen Kirche verboten.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Wiesenböll schon gegen alle Krankheiten ausprobiert. Peter Wapnewski nannte ihn den Papst der Kräuter, warnte jedoch davor, ihm blindlings zu vertrauen, schließlich gäbe es ja auch noch die Ärzte. Im Übermaß genossen, kann die Pflanze den gesunden Menschenverstand in die Banalität treiben.
Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983