Absage an Bevormundung

Absage an Bevormundung

– Er blieb ein literarischer Aussenseiter. –

Ihn umgab die Aura eines weisshaarigen, bärtigen Eremiten. In langer Wanderschaft war er zum Geschichtsphilosophen geworden. Einst hatte er in einem Steinbruch arbeiten müssen, in einer Kiesgrube und als Totengräber. Vergeblich hatte er das Beständige gesucht und war nach langem Widerstreit mit den Verhältnissen, so schien es, im schlichten Sein angekommen: in Leimen an der südlichen Bergstrasse in Baden-Württemberg. Dass er sich in einem verfallenden Haus eingerichtet hatte, war konsequent. Ohnehin sah er an jedem Ort, den er je betrat, das Bröckelnde. In unaufgeregter Verbitterung, war er seit seinem literarischen Debüt 1972 in der legendären Poesiealbum-Reihe des Verlags Neues Leben unterwegs auf der Suche nach Wahrheit. Er blieb ein literarischer Aussenseiter, der sich in der DDR hartnäckig im Widerspruch zur herrschenden Ideologie behauptete.

Unspektakuär, nüchtern und genau diagnostizierte er als Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Essayist und Hörspielautor die Lebensbedingungen. Immer skeptischer artikulierte er in metaphorischisch offener Rede Sinnverlust, Mangel und Leere. Sein lyrisches und novellistisches Zertrümmern von Scheinharmonien wurde dennoch gedruckt. Sprung ins Hafermeer, Vermutungen über einen Landstreicher, Mauerstücke, Gehversuche, Abschied von Arkadien, Wüstungen – solche Buchtitel demonstrierten Programm. Abspringen und Loslassen: das Entwurzeltsein des Flüchtlings und das Leben im Gegensatz zur Norm wurde ihm die einzig authentische Lebensweise.

Gerlach wurde 1940 in Bunzlau als Sohn eines Fuhrmannes geboren; die Familie floh 1945 nach Südthüringen. Die Geschichte seiner schlesischen Sippschaft hat er in humorvollen Miniaturen beschrieben, die er zur Collage des Romans Windstimmen (Aufbau Verlag 1997) zusammenband – eine Familiensaga mit Lebenden und Toten aus vier Generationen. Landstreicher, Vagabunden und allerlei Käuze bevölkern in zahlreichen Varianten seine Prosa bis zum Roman Rottmanns Bilder (Aufbau 1999).

1960/61 nutzte er die Gelegenheit einer Reise, um auf den Spuren seines Urgrossvaters Italien und Südfrankreich zu Fuss zu erkunden, was ohne behördliche Genehmigung in der DDR als zu ahnendes Verbrechen galt. Inhaftierung und Arbeit auf Friedhöfen nahm er in Kauf. Konsequent harrte er aus in der Absage an Bevormundung, Konvention und Kommodität – ein Leben im Gegenentwurf zu den herrschenden Regeln. Selbstgerecht wurde er dabei nie, aber selbstironisch. Er spürte bis zuletzt dem deutschen Zeitenwandel, dem nationalen und geschichtlichen Thema nach. Ihm ging es um die Selbstbehauptung des Individuums unter veränderten deutschen Bedingungen. Die Mischung aus Furcht und Hoffnung, die Nuancen in der Veränderung eines Ich- und Wir-Gefühls hat kaum einer so komisch und tragikomisch erfasst wie Harald Gerlach. Wo andere seiner Generation sich auf das Lamentieren oder das Demonstrieren von Zerfallendem beschränkten, gestaltete er das Paradox im historischen Moment. Seinem Credo, das er 1979 in dem Band Mauerstücke entworfen hatte, blieb er treu:

Absonderliches Gewerbe.
nicht zur Kenntnis nehmen
Hör- und Sehgewohnheiten,
den Marktwert der Poesie.
Dem verhaftet. Lebenslänglich.

Harald Gerlach starb nach schwerer Krankheit am Dienstag in Leimen.

Dorothea von Törne, Die Welt, 21.6.2001

Lebenslauf

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope

Porträtgalerie
Nachrufe
Gedenktage

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Henryk Goldberg: Harald Gerlach und die Geister seiner Thüringer Geschichten
Thüringer Allgemeine, 7.3.2015

Zum 20. Todestag des Autors:

Henryk Goldberg: Heimatkunde, poetisch: Erinnerungen an den Dichter Harald Gerlach
Thüringer Allgemeine, 19.6.2021