Ein zärtlicher Denker
– Wieder ist einer der Großen unserer Zunft gegangen – nach z.B. Swetlana Geier und Helmut Frielinghaus jetzt Hanns Grössel, der am 1. August 2012 im Alter von 80 Jahren in Köln starb. Etliche Wochen zuvor war er auf eigenen Entschluss in ein Hospiz gezogen, um sein Lebensende geborgen und gut betreut zu verleben.
Hanns Grössel ist Menschen und Literatur mit großer Empathie begegnet, liebevollforschend und dabei mit großer kritischer Genauigkeit. Er hatte immer etwas Spielerisches an sich, eine hintersinnige (auch Selbst-) Ironie frei von allem Zynischen. –
In seiner übersetzerischen Praxis wusste er diesen ludischen Aspekt mit absoluter Präzision zu kombinieren, was seinen Werken Treffsicherheit und große Offenheit zugleich verlieh – die ideale Bedingung für die Übersetzung der Lyrik von Thomas Tranströmer und zumal von Inger Christensen, deren geistesverwandter Fährmann er war. Obwohl die Liste der von ihm aus dem Dänischen, dem Schwedischen und dem Französischen übersetzten Autoren nicht kurz ist, nehmen die Werke von Inger Christensen den gewichtigsten Raum darauf ein. Sie haben ihn durch sein Übersetzerleben hindurch begleitet.
Hanns Grössel verfügte über Qualitäten, die über das bloß »richtige« Übersetzen weit hinausgehen: das Talent zum treffenden, schönen Wort, die Fähigkeit, Klang- und Sinnzwischenräume zu schaffen, ein Kalkül, das den allzu hohen genauso wie den allzu banalen Ton zu meiden weiß, eine sichere Trennschärfe im Erkennen dessen, was nötig und was möglich ist.
Auch in seinen eigenen Essays, Vorträgen, Beiträgen hat Hanns Grössel – Übersetzer, Autor, Lektor bei Rowohlt und S. Fischer, dann viele Jahre Literaturredakteur beim WDR – eine beeindruckend uneitle Klarheit des Wortes und des Gedankens gepflegt. Seine Urteile – ich denke z.B. an seinen eminenten Céline-Essay »Auf der richtigen Seite stehen« – waren wohlbegründet, klar, ja pointiert, doch nie gnadenlos.
In Sachsen geboren, verbrachte Grössel seine Kindheit in Kopenhagen, wo sein Vater Lehrer an einer deutschsprachigen Schule war. Sein geliebtes Dänisch lernte er buchstäblich spielend auf der Straße. Wer ihn hörte, hatte Gelegenheit festzustellen, dass das Dänische ein großes Potenzial der Anmut an sich hat.
Für sein Wirken als Übersetzer, aber auch als Kritiker ist Hanns Grössel häufig ausgezeichnet worden, so 1993 mit dem Petrarca-Übersetzerpreis oder 1996 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. 2002–2004 war er der Träger des Hieronymusringes unseres Verbandes (er erhielt ihn von Brigitte Große, er gab ihn an Elisabeth Edl weiter). 2010 wurde er mit dem von der Hubert Burda Stiftung und der Stadt Offenburg ausgerichteten Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Wir gedenken seiner als Übersetzer, vergessen dabei aber nicht, dass sein Beitrag für das literarische Leben und den europäischen literarischen Austausch über diese Tätigkeit weit hinausging, als Redakteur und Lektor, als Kritiker und Förderer, als Entdecker und Herausgeber, als Essayist und Forscher – und als jemand, der ungemein zu Kollegialität und Freundschaft begabt war.
Hinrich Schmidt-Henkel, Übersetzen, Heft 2, Juli –Dezember 2012