Mein Freund und die Wölfe
– Guntram Vesper hat in seinem Roman Frohburg die deutschen Verwerfungen der letzten 100 Jahre am Beispiel einer sächsischen Kleinstadt eingefangen. Das brachte ihm späten Ruhm. Sein Freund und Schriftstellerkollege Hans Christoph Buch trauert um ihn. –
In jedem Künstler und Schriftsteller steckt ein spielendes Kind, denn der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (Schiller)
Doch keiner meiner Schriftstellerfreunde war so kindlich verspielt wie Guntram Vesper, was nicht heißen soll, dass er Kinderbücher schrieb.
Im Gegenteil: Vespers Gedichte und Geschichten, allen voran sein Opus magnum, der Tausendseitenroman Frohburg, sind erfüllt von existenziellem Ernst und kreisen, wie Poes Parabel vom Mahlstrom, um die Erbsünde des zwanzigsten Jahrhunderts, von Lenin und Stalin über Hitler, Göring und Goebbels bis zu Ulbricht und Honecker: Krieg und Revolution, Flucht und Vertreibung inbegriffen, die Vesper hautnah erlebte, als er 1957 mit den Eltern aus der DDR in den Westen floh, zuerst in Gießen, dann in Göttingen wohnhaft, wo er am Donnerstag nach kurzer, schwerer Krankheit verstarb.
Guntram Vespers Geburtsort Frohburg, eine Kleinstadt mit fünftausend Einwohnern in der Leipziger Tieflandsbucht, war und ist in all seinen Texten präsent, ein realer und zugleich imaginärer Ort, an dem die Linien seines gelebten und ungelebten Lebens, Fakten und Fiktionen sich überkreuzen und Knoten bilden, die er poetisch entwirrt und episch aufgedröselt hat: Vom Haus der Eltern, dessen Lageplan Vesper nicht nur mit Worten, sondern auch auf Zeichnungen rekonstruierte, bis zur ein Menschenalter später wiedergefundenen Schiebetür, hinter der sein Vater mit russischen Offizieren Apothekeralkohol trank.
Vom Großvater, einem Tierarzt, der seinen neu erworbenen Opel nur starten, aber nicht stoppen konnte, bis Benzinmangel die rasende Irrfahrt beendete, zu Gerhart Hauptmann, den die Rote Armee mit Cognac versorgte, ehe er im Zinksarg von Agnetendorf nach Hiddensee reiste. Und von religiösen Sektierern, die Menschen und Vieh durch Handauflegen heilten, bis zum Kleinkrieg zwischen Kommunisten und Nazis im Erzgebirge, wo der junge Karl May sich einst vor der Polizei versteckte.
Diese und andere Fäden laufen auf Vespers Schreibtisch zusammen, wobei er, auf viele Stimmen verteilt, stets ein und dieselbe Geschichte erzählt vom Aufwachsen in einer sächsischen Kleinstadt, deren unbewältigte Vergangenheit die Identitätssuche zu ersticken droht: Ein Epos über die Welthaltigkeit der Provinz, das Vesper in Lyrik und Prosa vorwegnahm, bevor er sein Hauptwerk zu Papier brachte. Dabei blieb der Grundton von Anbeginn gleich: Eine abgründige Melancholie, deren Monotonie er mit ironischen Brechungen konterkariert und dadurch erträglich macht:
NEUJAHR IN SCHREYAHN
Aus dem Fenster sehen
auf Dorfplatz, Schaukel
Gewalt vergangener Tage.
Unten
fünf Männer
Knüppel, Hunde, vermummte
Gesichter
vielleicht nur zur
Treibjagd
zur Treibjagd über dünnes Eis.
Hinter dem damals fast obligatorischen antifaschistischen Engagement steckt eine tief verwurzelte Angst vor der Welt außerhalb des Kinderzimmers, vor deren Zumutungen der angehende Dichter in Büchern Trost und Zuflucht suchte – transzendentale Obdachlosigkeit hieß das Modewort dafür.
Guntram Vesper war ein Jäger und Sammler, der mir ernsthaft riet, zum Schutz vor Wölfen Waffen zu tragen, und Patrouille fuhr, so nannte er es, durch Problemviertel in Göttingen, deren Bewohner Polizisten mit Kartoffeln bewarfen.
Vor allem aber war er ein geradezu besessener Buchfetischist und Büchernarr, dessen Sammelleidenschaft sein Haus vom Keller bis zum Dachboden füllte:
Grass, dreimal Blechtrommel von 1959, Erstausgabe, fünfmal Katz und Maus, ebenfalls erste Auflage, Stück für Stück mit Schutzumschlag, Jüngers Der Arbeiter, Johnson, Mutmassungen, Jahrestage, der frühe Brinkmann, Ilse Aichinger Die größere Hoffnung mit dem raren Umschlag, alles, alles Erstausgaben.
Es hat keinen Zweck, ich will und kann nicht verheimlichen, dass ich mit Guntram Vesper befreundet war. Ich hörte ihm gern zu, wenn er von Karl May erzählte oder von seinem Besuch bei Joseph Breitbach, Stifter eines hoch dotierten Literaturpreises, dessen Roman Das blaue Bidet ihn begeistert hatte.
Breitbach lud den jungen Dichter ein, ihn in Paris zu besuchen, holte ihn am Bahnhof ab und fiel vor ihm auf die Knie, inständig bittend, sein homoerotisches Begehren zu erfüllen, was Vesper brüsk von sich wies. »Wie dumm von mir«, meinte er später. »Hätte ich Ja gesagt, wäre meine Karriere anders verlaufen!« Und er schwärmte am Telefon von Tomaten mit Mozzarella, die er zum Abendbrot aß, dazu Riesling feinherb von Aldi. Aber wir überwarfen uns, als er die Einladung des DDR-Autors Karl-Heinz Jakobs annahm, eine Erzählung zu schreiben fürs Neue Deutschland, das er als gebranntes DDR-Kind noch weniger mochte als ich.
Zwanzig Jahre lang herrschte Funkstille, bis mir zu Ohren kam, dass und wie Guntram Vespers einziger Sohn zu Tode gekommen war. Vor den Vätern sterben die Söhne lautet ein Buchtitel von Thomas Brasch. Der Lyriker Arnfrid Astel, dem Ähnliches widerfuhr, änderte daraufhin seinen Vornamen und nannte sich fortan Hans Arnfrid zur Erinnerung an den verstorbenen Sohn.
Guntram Vesper ging den umgekehrten Weg. Er arbeitete wie ein Besessener und schrieb in Rekordzeit seine Räume und Zeiten umspannendes Romanepos, einen erratischen Block, der das Trauma ausspart und gerade dadurch darauf verweist:
Versuch, die alles einfärbende Trauer und den schneidenden stechenden Schmerz hinter uns zu lassen, einmal ein paar Tage oder wenigstens Stunden, Viertelstunden durchatmen können, vielleicht, vielleicht auch nicht, an etwas anderes denken wollen, denken müssen, denken können, denken dürfen.
Wer mehr wissen will, vertiefe sich in Vespers mit dem Leipziger Buchpreis prämierten Roman und seine ebenfalls bei Schöffling erschienene Lyrik und Prosa – es lohnt sich!
Hans Christoph Buch, Die Welt, 22.10.2020
Lebenslauf
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Gedenktage
Zum 60. Geburtstag des Autors:
Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001