Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher

Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher

– Das Flanieren hatte der Dichter Guillaume Apollinaire in Paris zur Kunstform gemacht. Seine ersten Erfahrungen als Flaneur machte er aber an der Hand seiner Mutter in seiner Geburtsstadt Rom. Eine Spurensuche hundert Jahre nach seinem Tod. –

Als Guillaume Apollinaire sich Anfang 1918 daranmachte, aus seinen besten Zeitungskolumnen ein Buch zusammenzustellen, war er schon sehr schwach. Zu der Wunde am Kopf, die er sich zwei Jahre zuvor an der Front zugezogen hatte, kam eine schwere Lungenentzündung. Doch für den Eröffnungssatz konnte er noch einmal alle Kräfte bündeln:

Die Menschen geben nichts ohne Bedauern auf, und selbst Orte, Dinge und Personen, die sie besonders unglücklich gemacht haben, verlassen sie nicht ohne Schmerz.

Mit diesem Bonmot bewies Apollinaire nicht nur ein grosses Gespür für die Wirkkraft erster Sätze – er offenbarte auch ein Wissen um die Tücken der Erinnerung und die Sogkraft des Vergangenen.

Le Flâneur des deux rives heisst das Buch im Original (unter dem Titel Flaneur in Paris im Verlag Friedenauer Presse neu aufgelegt). Der Titel spielt auf die beiden Ufer der Seine an. In einem freieren Sinn meint er aber auch die zwei geistigen Linien, die Apollinaire seinem Buch eingezogen hat und die zugleich etwas über seine Poetik erzählen. Hier das Flanieren und die eigene Wahrnehmung, »Reizvolles und Kurioses« wie alte Strassen oder Läden, die Laternen der Stadt und »Gaswerke, Kohle, Schutt«. Dort die Welt der Literatur, Bücher, die über Zitate in die Beschreibungen einwandern, und Hommagen an vergessene Schriftsteller.

So schreibt er etwa über den Dichterkollegen Germain Nouveau:

Dieser Mystiker will nicht Narr oder dichtender Poverello genannt werden.

Bemerkenswert an dieser Formulierung ist nicht nur die versteckte Selbstdeutung, sondern auch das italienische Einsprengsel. Es verrät etwas über die Herkunft des Dichters. Geboren wurde Apollinaire im Jahr 1880 nämlich nicht in Paris, der »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, wie Walter Benjamin es nannte, sondern in Rom, der Hauptstadt des damals noch jungen Königreichs Italien.

Wer sich heute aufmacht, den Kindheitsspuren des Dichters nachzutasten, muss geduldig sein. Nicht ohne Schmerz wird er den Ort seiner Recherchen verlassen, wenn er hofft, Einzelheiten aus der Vergangenheit zu entdecken. Belohnt wird er aber durch atmosphärische Überraschungen.

»Unterm Pont Mirabeau fliesst die Seine dahin«, beginnt das vermutlich bekannteste Gedicht aus Apollinaires Sammlung Alcools (dt. Alkohol), die 1913 erschienen ist. Und nicht nur wegen des Reimes auf »dahin« ist hier »Erinnern Gewinn«. Die Alcools begründeten Apollinaires Ruhm, auch wenn die Wertschätzung für das Buch erst nach seinem Tod einsetzte.

In assoziativen Versen ohne Punkt und Komma wandert der Sprecher der Gedichte durch Welten aus Rhythmus und Klang, in denen er sich auflöst und für Momente wieder findet. Vergessene Namen und Mythen tauchen auf, imaginierte Bilder von Städten und andere dichterische Stimmen – so entsteht ein in sich gebrochener Ton der Erinnerung, der durchwegs melancholisch grundiert ist.

Unterm Ponte Palatino fliesst der Tiber dahin, und wer von dort aus am Forum Romanum vorbei zur Via Nazionale wandert und dann rechter Hand in eine der Gassen einbiegt, landet in Monti. Der sprechende Name verdankt sich dem Umstand, dass sich das Viertel über drei der sieben Hügel Roms erstreckt. Monti blieb weitgehend von den radikalen architektonischen Schnitten verschont, die Mussolini durch Rom setzen liess.

Der Preis für die Erscheinungsform, die jedes Klischeebild einer malerischen italienischen Kleinstadt noch übertrifft, sind heute die vielen Touristen. Und der immer lauter werdende Ruf, ein Szeneviertel zu sein. Alkohol wird hier weniger in Form von Versen als in Form von »guten Weinen in besonderer Atmosphäre« serviert, wie das Werbeschild an einer Bar verspricht.

In einem der Gebäude dieses Viertels wurde Apollinaire geboren. Seine Mutter Angelica war die Tochter eines emigrierten polnischen Kleinadligen, sein Vater vermutlich ein hoher Offizier der italienischen Armee. In der nahen Kirche Santa Maria Maggiore wurde der zukünftige Dichter auf den Namen Guglielmo Alberto Wladimiro Alessandro Apollinare de Kostrowitzky getauft. Um seine Herkunft hat Apollinaire immer ein Geheimnis gemacht. Es existiert nur ein kleines, unscharfes Bild, das jenes Haus zeigen soll, in dem die Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder während der sieben römischen Jahre wohnte.

Doch wo genau befand es sich? Lag es in der Via del Boschetto (was die Bildunterschrift nahelegt)? Oder eher, wie der italienische Schriftsteller Renzo Paris in einem Essay vermutet, in der Via Milano? Oder handelt es sich hier um das Geburtshaus, dort um das spätere Wohnhaus der Familie?

Noch schneller als die vielen Fragen schwirren einem beim Durchstreifen der Gassen die Jazzklänge durch den Kopf, die aus den Galerien, Schmuck- und Modeläden kommen. Er habe es geliebt, bemerkte Apollinaire einmal, an der Hand seiner Mutter durch die Strassen zu schlendern, besonders an Karneval, wenn sich zwischen den alten Mauern alles in Musik und Bilder verwandelte.

Während man den Blick über die Schaufenster mit ihren drapierten Waren, den Bildschirmen und Leuchtreklamen streifen lässt, beginnt man zu ahnen, wie sich der Wunsch, ein Avantgardist zu sein, im Laufe eines Schreiblebens mit dem Drang verschwistern konnte, Vergangenes »vor dem Vergessen zu bewahren«, wie es im Flaneur-Buch heisst. Das Hässliche hat Apollinaire stets mit Skepsis betrachtet – trotzdem holte er es ein ums andere Mal in seine Sätze. Vielleicht weil er spürte, wie sehr sich im eigenen Bewusstsein alle Momente undurchschaubar überlagern.

»Es ist ein Bild, das in einem düstern Museum hängt«, schreibt er in den Alcools einmal über das sprechende Ich. Doch Museen und mehr noch Bibliotheken hatten es ihm nicht nur als metaphorische Ideenspender für das eigene Innere angetan – er mochte es, die Zeit in Bibliotheken zu verbringen, wenn er unterwegs oder in Paris die Möglichkeit dazu hatte. Er sah in ihnen ein Bild für die Welt. Die Strassen von Paris, notiert er im Flaneur, seien eine »herrliche öffentliche Bibliothek«, durch die er sehr gern spaziere.

Umgekehrt waren ihm Bibliotheken Landschaften der Erinnerung und Orte, um blätternd auf Reisen zu gehen. So führt er seine Leser immer wieder durch die »weiten und reichen Räume« der Phantasie und gibt ihnen sogar archivalische Empfehlungen:

Wenn Sie in die Rue de Poissy kommen, machen Sie am Haus Nr. 14 halt, und versuchen Sie, sich das kleine Napoleon-Museum anzusehen.

Der Weg zurück zum Tiber führt über die Piazza di Campitelli. Dort, in einem der Palazzi, gibt es eine Biblioteca Guillaume Apollinaire, die zur Universität »Roma Tre« gehört. An der Rezeption sitzt ein kleiner gemütlicher Mann. Als man ihn mit ein paar angelernten Brocken Italienisch fragt, warum die Bibliothek denn nach Apollinaire benannt sei, ob man hier vielleicht sogar ein paar seiner römischen Spuren entdecken könne, meint er:

Guillaume Apollinaire war ein berühmter französischer Schriftsteller, der in Rom geboren wurde.

Voilà, mit dieser Information im Kopf betritt man den kleinen Lesesaal. Und entdeckt mit aufblühender Begeisterung eine Mischung von Büchern hinter den Vitrinen, die dem Bibliomanen Apollinaire bestimmt gefallen hätte: Abhandlungen über Tapisserien lehnen sich an Bände über Picasso oder Max Ernst, alte Wörterbücher zu Geografie und Architektur folgen auf Lexika zum Kino, zur Fotografie und zu Paris. Man kann der Geschichte der Troubadours nachspüren oder die Revue des deux mondes in gebundenen Ausgaben lesen, die bis ins Jahr 1880 zurückreichen.

So würde man am Ende seiner Recherche dem Leser mit Apollinaire am liebsten zurufen: Wenn Sie auf die Piazza di Campitelli kommen, machen Sie am Haus Nr. 3 halt, und versuchen Sie sich die kleine Apollinaire-Bibliothek anzusehen. Aber die Bibliothek wird in diesen Tagen leider schliessen und umziehen. Aus dem Palazzo geht es in einen nüchternen funktionalen Bau auf dem Gelände der Universität. Bleibt zu wünschen, dass die Mitarbeiter das Haus ohne Schmerz verlassen können. Auf dass sie auch am neuen Ort die Erinnerung an Apollinaire tapfer wachhalten mögen.

Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018

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Zum 100. Todestag des Autors:

Nico Bleutge: Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher
Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018