Günter Herburger ✝︎

der gallentröpfige (Registrant, Aufrührig, Schalmei von Jericho) ausdauernd. Familie der Protestazeen. Bitterpflanze.

Die Stengel auf dem Boden anschleichend, faserig. Die Blätter entgegenstehend, dampfwalzenförmig und stark klebrig. Der Kelch halb so lang wie die Samenkapseln, die im Winde grollende Töne von sich geben. Die Blüten purpurrötlich bis zartrosa.

Der gallentröpfige Hinundherburger wächst im Mief kleinbürgerlicher Scheuklappen, im Schweißgeruch vergeblicher Liebesmüh’ und in utopisch-poppigen Fluchtgefilden. Die Pflanze ist der Stolz einiger weniger Pflanzenfreunde, die sich in ihrem Frust nur an ihr aufzurichten vermögen. Ihr Wurzelwerk ist sehr aggressiv, was ihre Blüten jedoch Lügen straft. Kinder spielen gern mit den klebrigen Stengeln, so können sie immer etwas den Erwachsenen anhängen. In der Nacht leuchtet die Pflanze wie ein zukunftstrunkenes Glühwürmchen. Im Allgäu preist man den gallentröpfigen Hinundherburger als Boten des Frühlings, in Wirklichkeit jedoch blüht er im Herbst. »Mit ihm endet das Jahr«, stellt Joachim Kaiser in seinem schon erwähnten Buch ›Meine Wallfahrt nach Bayreuth‹ fest, »wer weiß, ob er überhaupt blühen würde, wenn er wüßte, was nach ihm kommt.«
Der gallentröpfige Hinundherburger enthält einen Bitterstoff, der durch hingebungsvolle Interpretation gewonnen wird. Er ist ein wichtiger Bestandteil des ›magenfreundlichen Krauterlikörs‹. »Es gehört zu den urdeutschen Eigenschaften, das Süße durch das Bittere zu vertiefen«, sagt Professor Diwald in seinem Buch ›Sternstunden deutscher Blütenträume‹, das jetzt in einer endgültig revidierten 3. Auflage vorliegt. Die Wissenschaft ist sich bis jetzt noch nicht einig, wie dieser Bitterstoff überhaupt zusammengesetzt ist und welche Wirkung er tatsächlich hat. Manche halten ihn ganz einfach für ein Kontrastprogramm.

Fritz Schönborn aus Deutsche Dichterflora, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983