
Gertrude Stein hat früh den Begriff von Queerness geprägt
– Heute vor 150 Jahren – am 3. Februar 1874 – wurde die Schriftstellerin und Mäzenin Gertrude Stein geboren. Lorina Speder über eine umstrittene lesbische Ikone, die Beziehungen zu Nazi-Kollaborateur*innen pflegte. –
Wer war Gertrude Stein wirklich? Das fragt sich die Autorin Valentina Grande in ihrem Nachwort von Gertrude Stein und ihr Salon der Künste. Die Graphic Novel über die US-amerikanische Autorin, Mäzenin, Kulturfigur und lesbischen Ikone ist vor kurzem herausgekommen und illustriert Einblicke in Steins Pariser Leben aus Sicht eines fiktiven Protagonisten.
Stein war vor allem dafür bekannt, sich in ihrer Pariser Wohnung mit literarischen und künstlerischen Größen zu umgeben. Ihr Salon, zu dem regelmäßig Hemingway, J.D. Salinger oder Picasso kamen, war legendär. Später hatte sie mit ihrer Autobiografie einen solchen Erfolg, dass sie und ihre Partnerin Alice B. Toklas als lesbisches Paar weltbekannt wurden. Mit ihren anderen, eher experimentelleren Texten und Gedichten hatte Stein jedoch nicht den Erfolg, den sie für sich beanspruchte. Außerdem ist sie wegen ihrer Nazi-Beziehungen im Zweiten Weltkrieg heute auch eine umstrittene Persönlichkeit. So stellt man sich zu ihrem 150. Geburtstag am 3. Februar 2024 wieder die Frage, wer Gertrude Stein wirklich war.
Stein, die am 3. Februar 1874 in Pennsylvania geboren wurde, wuchs in einer reichen Familie auf. Ihre Eltern, aus Deutschland emigrierte Juden, waren durch die Geschäfte ihres Vaters wohlhabend. Aus diesem Grund genoss Stein mit ihren vier Geschwistern schon in jungen Jahren ein internationales Leben mit Aufenthalten in Wien und Frankreich, bevor die Familie nach Kalifornien zog. Nach dem Tod ihrer Eltern im Teenageralter beschloss Stein mit 19 Jahren, ihrem Bruder Leo zu folgen und ein Studium in Cambridge aufzunehmen. Nachdem sie Vorlesungen in Biologie und Philosophie besuchte und später Psychologie und Medizin in Baltimore studierte, brach sie ihre studentischen Tätigkeiten ab und zog 1902 mit ihrem Bruder nach Paris. Durch den Salon in ihrer gemeinsamen Adresse in der Rue de Fleurus 27 wurde die Geschwister Stein ab diesem Zeitpunkt zur Drehachse der literarischen und malerischen Avantgarde in Paris.
Um 1907 begegnete Gertrude Stein ihrer zukünftigen Lebenspartnerin, der US-Amerikanerin Alice B. Toklas. Sie stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie und arbeitete bald für Stein als Sekretärin. Wenig später zog Toklas in Steins Pariser Wohnung und war neben ihrer Partnerin und Muse auch weiterhin ihre Sekretärin, Köchin und Lektorin, die sich während der Salons stets unauffällig verhielt.
Den Erzählungen zufolge schrieb Stein jeden Abend an ihren Texten. Dass sie vom Kubismus fasziniert war, wird in ihren experimentellen Gedichten deutlich, die oft ein Stream-of-Consciousness an Worten sind und literarisch zersplittert wie der Kubismus erscheinen. Für diese wurde sie jedoch von Kritiker*innen verhöhnt, was sie jedoch nicht vom Schreiben abhielt. Sie setzte ihr literarisches Arbeiten stoisch fort.
Ihr einziger Bucherfolg bleibt bis heute ihre Autobiografie von Alice B. Toklas, die aus der Perspektive ihrer Lebenspartnerin geschrieben ist. Die Autorin bezeichnet sich schon auf den vordersten Seiten als Genie, als die Protagonistin Toklas sich an ihre erste Begegnung mit Stein im ersten Kapitel erinnert. Hier kann man entweder ihre ironische Seite erkennen oder ein immenses Selbstbewusstsein herauslesen. Fakt ist, dass das Buch sofort ausverkauft war und Stein und Toklas das bekannteste lesbische Paar der Welt wurden.
Steins unkonventioneller und progressiver Lebensstil, ihre lesbische Beziehung, ihre spätere maskuline Erscheinung mit kurzem Haarschnitt und ihr selbstbewusstes Auftreten sind heute Attribute, die Stein zu einer wichtigen Figur des 20. Jahrhunderts machen, die früh den Begriff von Queerness geprägt hat.
Auf der anderen Seite stehen wiederum Hitler-freundliche Kommentare, die in Hinblick auf ihre eigene Familiengeschichte zwar als »eindeutig ironisch« ausgewertet wurden. Fest steht jedoch, dass sie antisemitische Reden übersetzte und Beziehungen zu Nazi-Kollaborateur*innen pflegte, die nicht nur ihr Leben während des Zweiten Weltkriegs schützten, sondern auch ihre Kunstsammlung retteten. Bevor Stein 1946 in einem Krankenhaus in Neuilly-sur-Seine starb, hatte sie nie öffentlich über ihre eigene jüdische Geschichte gesprochen und auch die Situation jüdischer Menschen in Europa nicht kommentiert.
Was bis heute von ihr geblieben ist, sind ihre literarischen Werke und die zahlreichen Gemälde und Romane der männlichen Künstler und Literaten, die sie unterstützte und an die sie glaubte. Außerdem ist bis heute der Name von Alice B. Toklas auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise auf der Rückseite ihres Grabsteins eingraviert.
Lorina Speder, queer.de, 3.2.2024
Lebenslauf
Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram 1 & 2 + Pennsound + MAPS 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie
Lesung
Gedenktage
Zum 75. Todestag der Autorin:
Brigitte Schwens-Harrant: Gertrude Stein: the Making of Sprache
Die Furche, 21.7.2021
Brenda Haas: Gertrude Stein – Eine komplexe Pionierin
dw.com, 27.7.2021
Zum 150. Geburtstag der Autorin:
Lorina Speder: Gertrude Stein hat früh den Begriff von Queerness geprägt
queer.de 3.2.2024
Nuria Langenkamp: Die Frau, die Picasso und Hemingway gross machte
Neue Zürcher Zeitung, 10.2.2024