Ein heiterer Hermetiker *

Ein heiterer Hermetiker *

– Zum Tod des tschuwaschisch-russischen Dichters Gennadij Ajgi. –

Wer jemals eine Lesung von Gennadij Ajgi live miterlebt hat, wird die Intensität, den unverwechselbaren Sang und die körpersprachlich unterstützte Rhythmik seines Vortrags wohl ebenso wenig vergessen haben wie seine schmächtige Gestalt, seine tänzerischen Bewegungen, seine asiatischen Gesichtszüge, sein gewinnendes Lächeln. So leicht er, über manche Sprachgrenzen hinweg, als Rezitator sein Publikum zu gewinnen vermochte, so schwer gelang ihm dies mit seinen Büchern, die den Leser zu einem anspruchsvollen »Gespräch auf Distanz« einladen, ihm höchste Konzentration, Aufmerksamkeit und Assoziationskraft abverlangen. Der 1934 in der sowjetischen Tschuwaschei geborene Ajgi, der seit 1953 in Moskau lebte, aber erst um 1960, ermutigt durch Boris Pasternak, das Russische als seine Literatursprache wählte, hat ein lyrisches Werk geschaffen, dessen hermetische Dunkelheit nicht allein auf seine schwer zu ergründende Metaphorik zurückzuführen ist, sondern auch – und vor allem – auf die ungewöhnliche Tatsache, dass sich der turksprachige Autor eine russische Schreibweise angeeignet hat, die merklich von der völlig andersartigen Grammatik und Syntax des Tschuwaschischen geprägt geblieben ist. Generell ist für Ajgis Dichtung kennzeichnend, dass sie sich auf eine überschaubare Anzahl einfacher Wort-Dinge beschränkt, die immer zugleich als Namen und als Metaphern eingesetzt werden, schlichte Begriffs-»Zwillinge« wie Feld, Hügel, Wald oder Weisse, Seele, Gott, die jedoch eingelassen sind in ein hochkomplexes rhythmisches und syntaktisches Sprachgefüge. Dieses wiederum baut sich vorzugsweise aus Partizipien und Gerundien auf, aus Möglichkeits- und Bedingungsformen, aus diversen unpersönlichen und passiven Konstrukten sowie – ein besonderes Merkmal der Ajgischen Lyrik – aus mehrgliedrigen Wortfügungen, zum Teil auch aus ganzen Sätzen, die aber, durch Bindestriche verklinkt, wie ein Wort behandelt werden: »die-als-seele-nur-ganz-kurz-sichtbarkeit:⏐ein wenig dreifaltigkeit – diesseits:⏐verweile ganz kurz ⎪ ›vogel‹ ›mutter‹ ›freund‹.«

Bei aller Schwierigkeit, ja Befremdlichkeit seines lyrischen Sprechens ist Gennadij Ajgi zu einem der international bekanntesten und meistübersetzten RUSSISCHEN Autoren der Gegenwart geworden. An den Poesiefestivals von Rotterdam oder Berlin hatte er vor Hunderten von Zuhörern seine grossen Auftritte, mehrfach war er bei den Literaturtagen von Schwalenberg und Lana zu Gast, er hat an französischen, britischen und amerikanischen Universitäten gelesen, ist in Polen, Schweden, Ungarn und besonders häufig in der Schweiz aufgetreten, wurde mit zahlreichen hochkarätigen Preisen geehrt, so mit dem Petrarca-Preis in Perugia und dem Belyj-Preis in Moskau, und zu wiederholten Malen galt er auch als Kandidat für den Nobelpreis. Allein im deutschen Sprachbereich liegen von Ajgi rund ein Dutzend Bücher vor, darunter eine zweibändige Werkausgabe, in der nebst einem Grossteil seiner Lyrik auch poetologische Essays, »Briefgespräche«, Vorträge, Interviews sowie Nachdichtungen tschuwaschischer Volkspoesie enthalten sind.
Diese weitläufige Resonanz hat in Russland nie auch nur annähernd eine adäquate Entsprechung gefunden. In der ehemaligen Sowjetunion galt Ajgi, weil er mit seiner  Dichtung keinen »sozialen Auftrag« zu erfüllen und den Kriterien des »sozialistischen Realismus« nicht zu entsprechen vermochte, als Aussenseiter, wenn nicht als Dissident. Im Druck konnten lediglich seine (tschuwaschischen) Übersetzungen aus dem Polnischen, Ungarischen, Französischen und Russischen (Puschkin, Twardowskij u.a.) erscheinen, die erste Buchpublikation mit eigenen (russischen) Gedichten erfolgte erst 1975 in Köln. Auch nach der Wende von 1989/1991 sind Ajgis Texte in Russland bloss in knapper Auswahl publiziert und zumeist kritisch aufgenommen worden. Durch den jähen Einbruch postmoderner Beliebigkeit in die russische Literaturproduktion sind »schwierige« Autoren wie Ajgi genau so in die Marginalität gezwungen worden wie einstmals durch die Sowjetzensur. Noch im Sommer 2005 absolvierte Gennadij Ajgi eine erfolgreiche Lesereise durch die USA, im folgenden Dezember wurde bei ihm eine schwere Erkrankung in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert, der er nun in Moskau, 72jährig, erlegen ist.

Felix Philipp Ingold, Literaturhaus Berlin, 28.3.2006, erschienen in Neue Zürcher Zeitung, 23.2.2006

* Ajgi – genauer: Aichì – ist im Tschuwaschischen ein hinweisendes Fürwort, das soviel bedeutet wie »jener«, »der dort«. Wenn Ajgi, der mit bürgerlichem Namen Gennadij Nikolajewitsch Lissin hiess, dieses Fürwort als Pseudonym gewählt hat, so gewiss deshalb, weil er die schlichte, wenn auch immer wieder missachtete Tatsache unterstreichen wollte, dass der Dichter keineswegs und keinesfalls identisch ist mit jenem Normalverbraucher, der seinen Pass auf sich trägt und der bei der Einwohnerkontrolle oder bei der Geheimpolizei unter irgendeiner vielstelligen Zahl registriert ist. – Sprache – Nekrolog – Rede Perugia – wir als Erfinder A’s (Ajgimanie)