Rede an die Steine
»Vielleicht sind wir ja schon / im Mutterbauch des Donners zugrunde gegangen« – so endet das 1990 entstandene Gedicht »Zeiten der Nacht«. Wie kaum einem anderen osteuropäischen Dichter war es Gellu Naum bewusst, daß nach dem zugrunde gegangenen Kommunismus nun nicht etwa das Neue und ganz Andere, das wahrhaft Menschengemäße beginne. Er hatte zu viel Schändlichkeit, Verbot und Verrat erlebt, als dass er nun einer haltlosen Euphorie hätte das Wort reden können. Als Erwachsener hatte Gellu Naum erfahren, dass sein Vater, der als Offizier im Ersten Weltkrieg gefallen war, bemerkenswerte Gedichte geschrieben hatte. Er selbst begann schon mit drei Jahren zu dichten. Der 18-Jährige hatte in Bukarest den surrealistischen Maler Victor Brauner kennen gelernt. 1938 folgte er dem Ruf dieses Freundes nach Paris und fand wie selbstverständlich Aufnahme im Kreis um André Breton. Den 1938 von den Pariser Surrealisten verfassten Aufruf »Weder euren Krieg noch euren Frieden« zitierte er noch in den 90er Jahren.In der Bukarester Surrealistengruppe, die von 1944 bis zu ihrem Verbot 1947 mit Gemeinschaftsanthologien, Zeitschriften, Ausstellungen und zahlreichen Einzelpublikationen noch einmal die Anerkennung der Pariser Freunde zu erreichen vermochte, erlebte Gellu Naum die Anerkennung, die ihm als Dichter längst zustand. Von 1947 bis 1968 übersetzte Gellu Naum die bedeutendsten Werke der französischen Literatur, aber auch Stücke von Beckett und Kafkas Prozess ins Rumänische. Seit 1968, als er allmählich wieder eigene Texte publizieren durfte, wurde Gellu Naum zum Dichter der nachfolgenden Generationen; seine ärmliche, mit Büchern vollgestopfte Bukarester Wohnung wurde zum Treffpunkt all jener, die sich gegen den rigiden Ceausescu-Kommunismus situierten. Dem deutschen Publikum wurde Gellu Naum erst ganz spät vorgestellt. 1990 erschien die autobiografische Prosa Zenobia, es folgten die Gedichtbände Black-Box (1993) und Rede auf dem Bahndamm an die Steine (1998), wofür Gellu Naum und Oskar Pastior, der das Buch übersetzt hatte, 1999 den Preis für Europäische Poesie der Stadt Münster erhielten. Oskar Pastior entdeckt Gellu Naum, heißt ein in diesem Frühjahr erschienener Band. Der große europäische Dichter, den man in Oskar Pastiors Übersetzung darin entdecken kann, ist am 28. September 76-jährig in seiner Geburtsstadt Bukarest gestorben. Gellu Naums Stücke werden seit einigen Jahren in Rumänien mit großem Erfolg gespielt. Dort spricht er weiter, vielleicht auch in diesen Tagen.
Ernest Wichner, Der Tagesspiegel, 3.10.2001