Zaubereien in Prosa
– Fritz Rudolf Fries, einer unserer großartigsten Schriftsteller, ist gestorben. Was er schrieb, ob Das Luft-Schiff oder Die Väter im Kino, war anders als das meiste, was zwischen Rügen und Fichtelberg zu Papier gebracht wurde, ungewöhnlicher, artistischer, verspielter, exotischer. –
Der Tag war schön, sonnig und warm. Ein Sommertag, 19. Mai 1985. Er saß im Garten, den Stock zwischen den Knien, und genoss die Huldigungen seiner Gäste. Sie kamen aus verschiedenen Ecken Deutschlands, aus Ost und West, Autoren, Journalisten, Lektoren, Verleger, beladen mit Blumen und Geschenken. Draußen, hinter der hohen, undurchsichtigen Hecke, reihten sich auf dem breiten, damals noch welligen Sandweg, dieser abenteuerlichen Berg- und Talbahn, misstrauisch beäugt von den Nachbarn, die Autos. Man saß in Gruppen unter den Bäumen, die reichlich Schatten spendeten, die Hausfrau schleppte Kaffee, Kuchen, Flaschen und Gläser, und Fries, der Jubilar strahlte, redete, lachte. An diesem Tag wurde er fünfzig, und die Feier wurde zu seinem diebischen Vergnügen ein Fest friedlicher Koexistenz.
Er war damals ein bekannter, bewunderter Schriftsteller, ein Autor auf dem Gipfel des Erfolgs, wohl auch des Ruhms, verlegt in Frankfurt am Main, Rostock, Leipzig und Berlin, ein Exot, geboren 1935 in Bilbao, aufgewachsen in Leipzig, wo er auch studierte, wohnhaft seit langem in einem Ort vor den Toren der Hauptstadt, ein DDR-Bürger, der in der Welt zu Hause war und den man jenseits der Mauer sogar früher und besser kannte als im Land, mit dessen blauem Pass er reiste. Er hatte früh einen Roman geschrieben, ein Buch mit dem irritierenden Titel Der Weg nach Oobliadooh, das war, wie üblich, in den Fängen der Zensur gelandet, und die Zensur hatte befunden, dass man die Leser der Republik vor diesem seltsamen Werk und den rebellischen Helden, die es feierte, wirkungsvoll schützen müsste.
Der Roman fiel aus dem Rahmen. Er war eigenwilliger, respektloser als alles, was damals in der DDR geschrieben wurde. Die jungen Leute darin hatten wenig Ähnlichkeit mit den jungen Leuten, die in den Zeitungen vorkamen. Der Roman war chancenlos. Er war zu wüst, zu geistreich und komisch, ein funkelndes Stück Prosa. So kam es, dass er durch Vermittlung Uwe Johnsons bei Suhrkamp erschien und im Westen für Furore sorgte. (In der DDR kam er erst im Herbst 1989 heraus, als auch die Politprominenz hatte einsehen müssen, dass es nicht Bücher waren, die ihr Land in den Exitus getrieben hatten).
Fries, Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, verlor wegen des aufmüpfigen Werks seinen Posten und wurde arbeitslos in einem Staat, der diesen Zustand offiziell nicht kannte. Er verdiente sein Brot fortan mit Übersetzungen, schrieb ein zweites, drittes, viertes Buch, erst Reportagen und Reiseimpressionen, dann weitere Romane, Essays, Hörspiele. Er kroch nicht zu Kreuze, aber er wurde vorsichtiger. Seine Texte, weit von aller sozialistischen Einfalt entfernt, maskierten sich, so gut es ging, um unverdächtig zu erscheinen. Sie blieben einfalls- und anspielungsreich und betörend ironisch, sie hatten ihren Spaß am spielerischen Umgang mit Historie und Gegenwart, auch an raffiniert gelegten und getarnten Fallen. Man sah ihnen nicht immer gleich an, dass sie in der DDR entstanden waren. So blieb der Argwohn der Ideologiewächter dem Autor erhalten.
Dabei hat Fries seine Herkunft weder kaschiert noch geleugnet. Das Haus, in dem er saß, stand im Niederbarnim und war von den DDR-Verhältnissen nicht zu trennen. Allerdings: Der Geist drinnen kannte kein Dogma und auch keine Grenzen. Die Bücher an den Wänden holten die Welt ins Zimmer. Die Musik, die er hörte, meist in dröhnender Lautstärke, war nicht von der Art, die man in der Umgebung favorisierte. In den Gesprächen mit Freunden kamen Namen vor, die zu den Zierden der Moderne gehören. Fries war einer der belesensten Autoren, denen man begegnen konnte.
Was er schrieb, ob Das Luft-Schiff oder Die Väter im Kino, war anders als das meiste, was zwischen Rügen und Fichtelberg zu Papier gebracht wurde, ungewöhnlicher, artistischer, verspielter, exotischer. Den großen Roman, fantastisch wie die gerühmten Schöpfungen der modernen Lateinamerikaner, turbulent, vertrackt und von Jean Paul’schem Humor, schaffte er 1982 mit Alexanders neue Welten, der Geschichte einer mysteriösen Flugzeugentführung, einer verwegenen, geistreichen Wanderung durch die Sphären des realen Sozialismus.
Jahre später wollte diesen Fries keiner mehr kennen. Plötzlich war die Reputation, das Ansehen, alle Hochachtung futsch. Der bewunderte Erzähler, im Westen immer lauter, begeisterter gepriesen als in der DDR, nun eine Unperson, entlarvt als IM. Stasi, das Schreckenswort als Fallbeil. Er machte, als der Medienhatz die Luft ausging, weiter, schrieb, weil er gar nicht anders konnte, in verzweifelter Gegenwehr Buch um Buch. Die Romane Die Nonnen von Bratislava, Der Roncalli-Effekt oder Blaubarts Besitz, hell und brillant wie ehedem, erschienen mal in München, mal in Berlin oder Leipzig. Sie wurden, unfassbar, meistens Totgeburten, vom maßgeblichen Feuilleton (Strafe muss sein!) meist ignoriert.
Nachdem so eine Ewigkeit vergangen war, fragte 2013 ein Rezensent in der Online-Ausgabe des Spiegel überraschend:
Kennen Sie Fritz Rudolf Fries?
Es war kein Scherz. Er meinte es ernst. Er wusste, dass viele bei dieser Frage passen würden. Fries war ein Vergessener, einer, der übersehen wurde, einer, der nicht dazugehörte.
Zur Debatte stand das jüngste Buch, Last Exit to El Paso, wieder so eine Fries-Geschichte, wieder hinreißend eingefädelt und mit Pfiff erzählt, ein Meisterstück und Sprachwunder mit zwei alten Männern im Mittelpunkt, Männern »am Ende ihrer Tage«, die sich aufmachen nach Amerika und dort zu einem Wettrennen starten, der eine an der Westküste, der andere im Osten der USA. Hinten, auf dem Umschlagrücken, stand ein Satz des Kritikers Helmut Böttiger, der meinte, es sei an der Zeit, »dass der Literaturbetrieb Fritz Rudolf Fries endlich wieder den Rang zuerkennt, der ihm gebührt«.
Fries saß derweil in seinem Haus und machte sich wie stets seinen Reim auf die Welt. Er war schon lange sehr krank, die Stimme am Telefon schwach und brüchig, der Bewegungsapparat gehorchte nicht mehr, der Kopf aber noch immer voller Sottisen, Bilder und Geschichten, wirklichen und unwirklichen. Er las, er tippte auf seinem Laptop, fütterte ihn mit Einfällen und Ideen, er wartete darauf, dass die lesende Welt da draußen irgendwann begreifen würde, was sie an ihm hatte. Was er ihr für grandiose, pfiffige, wunderbare Geschichten schenkte. Geschichten, in denen unsere Zeit eingefangen ist, die schöne, unbegreifliche, verrückte Zeit, der Osten, der Westen, mal mit, mal ohne Mauer.
Jetzt ist Fritz Rudolf Fries, nach dem Erfolg des letzten Romans hoffentlich ein bisschen versöhnt, im Alter von 79 Jahren gestorben.
Klaus Bellin, nd, 20.12.2014
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