Eigensinnig, bodenständig, skeptisch

Eigensinnig, bodenständig, skeptisch

– Friedrich Achleitner gehörte zu den massgeblichen, seiner leisen Art wegen aber gern unterschätzten Exponenten der österreichischen literarischen Avantgarde. Er war Mitglied der Wiener Gruppe, gab sodann der Architekturkritik neue Impulse und entwickelte schliesslich einen hinreissenden Spätstil in Form poetischer Miniaturen. –

Im Jahre 2009, Friedrich Achleitner war gerade 79 geworden, schrieb die Wiener Literaturzeitschrift Wespennest über den Schriftsteller und Architekturkritiker: »Ich beobachtete, wie er den Platz überquerte: behende, zielorientiert, in einem angemessenen Tempo, nicht hektisch-hastig und auch nicht lähmend-langsam, sondern in sich gekehrt und zugleich gänzlich im Raum. Im Vergleich zu ihm wirkten viele Jungspunde wie früh vergreist. Wenn auf dem Platz ein Ballett aufgeführt wurde, dann war der älteste Tänzer der Primus, denn er war massvoll und sinnvoll in der Welt, weder geduckt noch aufgeplustert, nicht verängstigt und auch nicht übermütig.«

Dieser Beschreibung merkt man eine Verehrung an, die sich Friedrich Achleitner, 1930 im oberösterreichischen Innviertel als Sohn eines Landwirts geboren, seit seiner Ankunft in Wien, Anfang der fünfziger Jahre, redlich verdient hatte. Anfangs studierte er Architektur und betreute bis 1958 architektonische Projekte, darunter die Modernisierung der Wiener Rosenkranz-Kirche. Sein berufliches Interesse hatte durchaus biografische Gründe, schliesslich hatte er hautnah miterlebt, als der Krieg das Haus seiner Kindheit zerstörte.

 

Poetische Planspiele

Auf die Zerstörungen des geistigen Lebens durch den Nationalsozialismus und den Konservatismus, der die österreichische Nachkriegsliteratur beherrschte, reagierte aber auch die Wiener Gruppe um H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Dieser losen Künstlervereinigung, die sich an Avantgarde-Bewegungen wie Surrealismus und Dadaismus orientierte, provozierende politische Stellungnahmen abgab und mit der Sprache experimentierte, schloss sich der junge Achleitner als Letzter an. Zwar liess er sich von den poetischen Planspielen des »methodischen inventionismus« anregen und wirkte an den literarischen »cabarets« oder der »kinderoper« mit, an visuellen und akustischen Präsentationen also, die das Ziel verfolgten, verkrustete ästhetische Vorstellungen aufzubrechen. Doch zu den »Ideologen« der Avantgarde zählte er nie. Dafür war der Innviertler zu eigensinnig, vielleicht auch zu bodenständig-skeptisch.

Als Gerhard Rühm verkündete: »wir haben den dialekt für die moderne dichtung entdeckt«, meinte er damit sich selbst, H.C. Artmann und Friedrich Achleitner. Der bediente sich allerdings nicht des Wiener Dialekts, sondern seiner heimischen Mundart. Hatte man das Kind in der Volksschule noch aufgefordert, es solle »schön sprechen«, ging Achleitner nun umso neugieriger, geradezu sprach-ethnologisch vor, der Einsicht entsprechend, dass Distanz immer besser ist als Nähe, »weil: in der Nähe sieht man ja nichts«. In äusserster, sich bis auf Einzelvokale beschränkender Reduktion erfasste er nicht nur in nuce die Sprechaktsituation, sondern er brachte auch das Wesen eines Dialekts auf den poetischen Punkt, der als »begrenzte Arbeitssprache« keinen Wortschatz für Gefühle kennt: »wos / na / ge // ge / na / wos // na / wos / ge // ge / wos / na // wos / ge / na // na / ge / wos«.

Bereits vor dem Selbstmord Konrad Bayers, 1964, der den Zerfall der Wiener Gruppe einläutete, erschloss sich Achleitner mit pointierter Architekturkritik für verschiedene österreichische Tageszeitungen ein neues Arbeitsfeld. In seinem poetologischen Selbstverständnis war Wirklichkeit durch Sprache nicht abbildbar – aber als Architekturpublizist musste er sich in Beschreibungskunst und auf den Gegenstand bezogener Polemik üben. Mochte er später auch sagen: »Für mich haben beide Bereiche nichts miteinander zu tun gehabt«, machte er den Widerspruch doch für beide Seiten fruchtbar.

 

Ein Glück für die Architekturkritik

Achleitners Symbiose von praktischer Erfahrung und schriftstellerischer Sprachskepsis erwies sich nicht nur für die Architekturpublizistik als besonderes Glück. Sie war auch Bedingung für den quadratroman von 1973, in dem der Autor mit einem grafisch variierten Quadrat auf jeder Buchseite sein Spielfeld absteckte, das er mit Texten ausfüllte, um-, unter- und überschrieb, um die Beziehung zwischen Raum und Sprache, Konvention und Freiheit auszuloten. Sprachwitz und konstruktives Verfahren schlossen sich bei Achleitner nicht aus.

Später ging er daran, eine mehrbändige Geschichte der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts zu verfassen, nicht ohne dafür jedes Bauwerk selbst zu besichtigen und zu dokumentieren. Im Laufe dieser jahrzehntelangen Arbeit entstand ein weltweit einzigartiges Archiv, das heute vom Architekturzentrum Wien verwahrt wird. Doch dass der Rowohlt-Verlag in den Fahnen zu einem Buch aus dem Text »vorbereitungen für eine hinrichtung« den Titel »vorbereitungen für eine einrichtung« machte – ein Fehler, den der Autor noch gerade rechtzeitig entdeckte –, zeigt, dass man dem Autor wohl innenarchitektonische Sachkenntnis, kaum aber einen offen politischen Text zutraute.

Achleitner focht es nicht an. Polemisch stritt er gegen die Verherrlichung des Regionalismus, den er als Erfindung des Städters entlarvte. Dabei knüpfte er an die Erfahrungen der Verlogenheit einer angeblich heilen Heimatkultur der Nachkriegszeit an. Doch unterfütterten solche Einsichten bisweilen auch die ab 2003 in regelmässigen Abständen erscheinenden Prosaminiaturen, von den einschlafgeschichten bis zum wortgesindel: »es muss einmal gesagt werden, sagte ein alter dorfbewohner, das dorf ist die gebaute idylle für hass, missgunst und neid, brutstätte grimmigsten humors und humorlosesten grimms«.

Nein, Humor war Achleitner nicht fremd. Von seinen späten Geschichten wünschte er sich, sie sollten »wie ein fisch im stehenden wasser schweben«, und tatsächlich bestechen sie durch Beiläufigkeit, Leichtigkeit und Zweckfreiheit. In ihnen wird die Sprache selbst lebendig, und oft sind sie zum Umwerfen komisch. Gleichzeitig haben sie, allem gelegentlichen Granteln und aufblitzend Bösen zum Trotz, etwas freundlich Mildes an sich. Teils liegt das am Abendlicht des Alters, das sie bescheint, teils aber auch daran, dass das Programm der Wiener Gruppe längst Allgemeingut geworden ist. »Wenn ich mir die heutige Werbung anschaue«, meinte Achleitner einmal dazu, als ich ihn in seinem Atelier besuchte, »dann kann man sich’s ohne konkrete Poesie gar nicht vorstellen, gerade im Film, in den Werbespots, was da mit Silben, Buchstaben oft gemacht wird. Wenn wir diese Mittel damals gehabt hätten, dann wären ja unglaubliche Sachen entstanden.«

Dass Friedrich Achleitner, den seine Freunde Fritz nannten, dieser verschmitzte und liebenswerte Mensch, nie mehr – massvoll und sinnvoll, in sich gekehrt und zugleich gänzlich im Raum – über den Wiener Dr.-Ignaz-Seipel-Platz gehen wird, ist ein bedrückender Gedanke. Am Vormittag des 27. März ist Friedrich Achleitner im Alter von 88 Jahren gestorben.

Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung, 27.3.2019