Die Geschichten werden weitererzählt

Die Geschichten werden weitererzählt

– Grabrede für Eugen Helmlé. –

Ich erinnere mich an frühe gemeinsame Tage. An einem Adventsonntag 1945 traten wir Mittelschüler bei einem Weihnachtsspiel im Saarbrücker Johannishof auf. Ich spielte den heiligen Josef, Margrit und Brigitte agierten als Engel und schwebten in batistenen Nachthemden über die Bühne. Ein Glück, daß Eugen uns damals nicht gesehen hat! Er arbeitete tagsüber mit seinem Vater in der Backstube, nur samstagsabends holte ich ihn von zu Hause ab, wenn er mit der Arbeit fertig war, in der Küche am Tisch hockte, las und schrieb. Es war die Zeit der sternenhellen Nächte, wir spazierten zum Pflanzgarten hinaus, setzten uns eine Weile auf die Bank, rauchten wahlweise eine flache Rote Halbe Fünf mit orientalischem oder eine runde Braune Halbe Fünf mit Virginiatabak, stiegen den Pfad zum Philosophenweg hinauf und schlenderten am Hang des Brennenden Berges dahin. Unten aus dem Tal blitzten die Lichter des Dorfs herauf, und aus Eugens Jackentasche duftete es nach Veilchenpastillen. Wir rauchten, um unsere Gesundheit zu schonen, ab und an eine Mentholzigarette, lutschten Eugens Pastillen dazu und versuchten uns Zarathustras »Trunkenes Lied« auszulegen. Ein sanfter Wind zog durch die Zweige der Bäume, die Nacht, von der es im Zarathustra heißt, sie sei auch eine Sonne wie der Schmerz eine Lust, wie der Fluch ein Segen und der Weise ein Narr, verlor ihre Eindeutigkeit und verwies uns wieder auf das Je-nachdem.

Doch wir fanden aus dem Gestrüpp, das aus Nietzsches Sätzen in unseren Köpfen zusammenwuchs, heraus auf den geschotterten Weg und kehrten ins Dorf zurück. »Ihr höheren Menschen, es geht gen Mitternacht!« tönte es uns aus dem Zarathustra entgegen; wir begaben uns zur Spätvorstellung ins Lichtspieltheater. Es war die Zeit des guten Kinos, die beiden Filmtheater im Dorf konkurrierten mit poetischen Balladen aus Frankreich, realistischen Streifen aus Italien und melodramatischen Kolossalschinken aus Amerika. Wir zogen die Thriller vor, am liebsten sahen wir die B-Filme mit eleganten Gangstern und schönen Frauen. Ich erinnere mich an eine Szene, die mich so stark beeindruckte, daß ich sie bis heute nicht vergessen habe: Es klopft an die Tür, ein Gangster kommt zu George Raft und Virginia Mayo ins luxuriöse Hotelzimmer. George Raft schaut den Gangster an, drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und sagt zu Virginia Mayo:

Geh und spiel mit deinen Pelzen.

Uns beeindruckte diese Aufforderung zum Spiel, und früh schon, bevor wir anfingen, es selbst mit der Sprache zu versuchen, bewunderten wir jeden spielerischen Ausdruck. Die Verwandlungsspiele aus den Büchern faszinierten uns am meisten: Rousseaus Gedankenspiele über den besseren Menschen, Max Dauthendeys Landschaftsspiele vom Biwasee. Sie packten uns an, gruben uns um; und es blieb nicht folgenlos. Damals, ich weiß nicht mehr bei welcher Gelegenheit, brachten Margrit und Brigitte den Begriff der »Duplizität« der Fälle ins Spiel. Mit einem Mal, ohne in den Kategorien des Denkens gebildet zu sein, philosophierten wir über die Eigentümlichkeit des Zufalls und des Unwägbaren, über die gar nicht so seltene Doppeltheit von Ereignissen, die sich heute, ein halbes Jahrhundert später, überraschend wieder in Erinnerung bringen.

Ein Jahr, nachdem Eugen Helmlé geboren wurde, fast auf den Tag, stand Gottfried Benn mit seinen Freunden am Grab des Dichters Klabund und hielt eine Totenrede, die mir beim Wiederlesen diese Duplizitäten wieder erhellt. Auch Eugen und ich waren – wie Benn und Klabund – Klassenkameraden in derselben Schule, auch wir stürzten uns gemeinsam in die Lektüre derselben buddhistischen Schriften. Auch Eugen wohnte in einem kleinen Zimmer, das nur ein Fenster hatte, einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett, das tagsüber mit Büchern und Zeitungen, Briefen und Manuskripten bedeckt war. Eugen ist Klabund vergleichbar in äußerer und innerer Verfassung. »Diese schmächtige Gestalt – und die Unendlichkeit der Welt!« rufe ich mit Benns Worten aus, »gegen eine Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus, gegen eine Welt der gesicherten Existenzen, der Ämter und der Würden und der festen Stellungen trug er nichts als seinen Glauben und sein Herz« – zwei große Worte, die Eugen zu seinem Lob nicht akzeptiert hätte!

Auch ich gab dem Freund einen Kosenamen wie Gottfried Benn dem seinen. Benn nannte Klabund »in Freundschaft Jens Peter, das waren die Vornamen des großen dänischen Romanschriftstellers Jens Peter Jacobsen, dem er äußerlich ähnelte.« Ich nannte Eugen zeitlebens nach Eugene Gant, dem lern- und lesewilligen, fernsehsüchtigen Helden aus Thomas Wolfes Roman Schau heimwärts, Engel!, den wir zusammen lasen. Wenn ich zurückdenke und die Augen schließe, sehe ich seinen hellhäutigen Teint, die blonden Augenbrauen, das dichte, wellige goldrote Haar. Und erst sein Lächeln, das nur ein Zucken der geschlossenen Lippen war! Es scheint, als lächelte auch Eugen inwendig über irgendeinen phantastischen Einfall oder über irgendetwas, das im Gedächtnis auftauchend ihm zum erstenmal komisch vorkam. Eugene Gant, dem er ähnlich sah, ist mir so vertraut geblieben wie Eugen Helmlé, weswegen ich Eugens Name heute noch englisch ausspreche, manchmal in den verschiedensten Koseformen Gene oder Jeannie sage.

Im Kino, bevor das Licht ausging, las er ein ganzes Jahr in einem Schopenhauerbrevier, und auf der Bank am Pflanzgarten, wenn er auf mich oder auf einen anderen Freund wartete, studierte er Lehrsätze und weise Sprüche des Buddhismus. Er wußte Bescheid mit dem schwebenden Diskus und dem Rad des Gesetzes, erklärte uns, wenn wir mit Margrit und Brigitte zusammensaßen, ihre rollende Kraft, der keine Gewalt der Erde Einhalt gebieten könne: Scheibe der Sonne und Kreis der Lehre, zwei scheinbar nicht zusammengehörige und unvergleichbare Figuren, unser Schicksal zu bestimmen. Auf unseren Spaziergängen versuchte Eugen mir das Große und das Kleine Fahrzeug zu beschreiben, redete sich den Mund franslig, mich von den Einsichten des Erhabenen zu überzeugen.
Eugen hat nicht an Gott geglaubt. Wer in einem Gespräch mit ihm je an diesen strittigen Punkt gelangt ist, der kann Eugens Widerwillen gegenüber der Bevormundung durch die Kirche, seine Abscheu vor der Allmacht des Staats, seine Verachtung der inflatorischen Benutzung des Wortes Kultur bezeugen. In einem Brief nach Paris erregte er sich darüber, mit welcher Geringschätzung die offiziellen Verwalter der Kultur von der Kunst sprächen, die aber die einzige Errungenschaft unserer Ausdruckswelt sei. Die Kunst, schrieb er mir, habe nichts zu tun mit dem reaktionären deutschen Kulturverständnis. So anerkennend er unsere französischen Freunde im Freilauf aufgeklärter Zivilisation bewundert hat, so spöttisch hat er unsere deutschen Landsleute am Gängelband obskurer Kultur bedauert.

An dieser Stelle sind wir, nach meiner ganz freien spielerischen Auslegung, bei der letzten Duplizität angelangt: Sie betrifft die Vorlieben, die Neigungen unserer Seele –, noch einmal das Wort, das Eugen nicht in den Mund genommen hat. Gottfried Benn spricht in seiner Totenrede für Klabund von der Tendenz der Künstlerseele, er sagt:

Die Wirklichkeit und die Entwicklung, die Kausalität und die Geschichte, alles nur Masse, alles nur Ton, darin sie spielend nach Göttern sucht.

Auch Eugen Helmlé hat spielend gesucht. Er war der ernste unter den Spielern, der unserem Beruf einen Hauch von Seriosität verliehen hat. Mit der Sprache spielend suchte er, aber er suchte nicht nach Göttern. Er suchte nach vorgestellten, nach erfundenen, nach möglichen Figuren, die im Spiel der Sprache eine zweite Existenz gewinnen. Ihre Gestalt ist einzigartig, keine pure Doppelnatur, kein künstlich gespiegelter Zwilling. Die Duplizität der Erscheinung, von der wir vor fünfzig Jahren schwärmten, ist das wirkliche Gebilde in seinem künstlerischen Reflex.

Mit philosophischer Durchtriebenheit wünschte sich Georges Perec eine Vollkommenheit im Leben, die nur der Kunst vorbehalten bleibt. Aus seinem Buch Träume von Räumen übersetzt Eugen:

Leben heißt, von einem Raum zum anderen gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen.

Ein schöpferischer Übersetzer, hat Eugen Helmlé in hundert Büchern ein ganzes Universum von Eigenbrötlern und Mauerblümchen, von tragischen Aussteigern und sympathischen Käuzen bevölkert: lauter Außenseiter, die im schönen Schein der Kunst ein neues Leben gewonnen haben. Es sind die in Eugens Sprache Neugeschaffenen. Ihre Geschichten sind nicht zu Ende. Sie werden fortgesponnen und weitererzählt. Das hält auch der Tod nicht auf.

Ludwig Harig, Neuweiler, 15. Dezember 2000, Schreibheft, Heft 56, Mai 2001