Adios, compañero!

Adios, compañero!

– Der nicaraguanische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal ist tot. Was bleibt, ist seine Dichtung und die Einsicht, dass keine Revolution ohne Liebe gelingen kann. –

Der Dichterpriester Ernesto Cardenal ist tot. 95 Jahre alt wurde er. Keine Revolution schafft so ein Alter, die sozialen Utopien halten etwas länger. Allein der Poesie ist es vergönnt, zu überdauern. So werden sich die Menschen in Lateinamerika und weit darüber hinaus an den Verstorbenen auch noch erinnern, wenn der von ihm geprägte Begriff »Befreiungstheologie« ebenso ein historischer Begriff geworden ist wie das erste Konzil von Niccäa oder die Hexenverbrennung.

Ernesto Cardenal gehörte zu den Dichtern, der die Revolution in seinem Lande dichterisch befeuerte, statt sie lediglich lyrisch zu begleiten. Dazu muss man wissen, dass die Dichtung in den lateinamerikanischen Ländern eine ganz andere, viel höhere Gewichtung hat. Die Kunst der Poesie wird in den lateinamerikanischen Mythen als eine Göttergabe gedeutet – als Feuer, das vom Himmel an die Begnadeten weitergereicht wird. Deshalb klingen Texte aus diesen Breiten für europäische Ohren immer etwas zu pathetisch.

Was verliert die Welt mit diesem Mann? Einen großen Theologen, der immer zuerst den Menschen im Blick hatte, ihn über die klerikale Ordnung stellte, der das soziale Gewissen in den Mittelpunkt der Kirche rückte. Und der in uns die Erkenntnis weckte, dass Glaube und Freiheit keine unüberwindbaren Gegensätze bleiben müssen. Die Politik des Papstes Franziskus wäre heute eine andere, womöglich eine mehr entweltlichte. Maria 2.0 und die Debatte zur Abschaffung des Zölibats sind womöglich die Früchte des Zorns und der Hoffnung von Ernesto Cardenal, dass der Mensch sich wandeln kann und die Zustände veränderbar sind.

In Deutschland gibt es einen Kardinal, der Marx heißt, in Nicaragua wurde ein Marxist mit dem Nachnamen Cardenal zum Priester, Politiker und Dichter. Ernesto Cardenal Martinez wurde am 20. Januar 1925 in Granada/Nicaragua in eine wohlhabende Oberschichtenfamilie hineingeboren. Revolutionäre, die aus solchen gehobenen Kreisen stammen, haben oft eine romantisch gefärbte Vorstellung von den Zuständen der unterdrückten Klasse, die in der Folge zu politischen Missverständnissen führt: Gerät das Volk nicht so, wie es sich die Revolutionäre in ihren kühnsten Visionen ausmalen, fällt es in Ungnade und muss die Folgen dann auch leider alleine ausbaden.

Nicht so bei Ernesto Cardenal. Sein Bruder Fernando war Jesuit – die Familie war christlich orientiert und so dominierte dort ein Barmherzigkeitsbegriff, der aus der Bergpredigt herrührte: Der Mensch ist fehlbar, ein Sünder, das darf er auch sein, das hat Gott so angelegt. Deswegen hat er uns auch seinen eingeborenen Sohn geschickt, dass er uns beisteht. In der Dichtung Ernesto Cardenals klingt das so: »Gott braucht den Menschen nicht, um glücklich zu sein, und doch liebt er ihn so, als ob er ohne ihn ewig unglücklich wäre.«

Er beteiligte sich an der nicaraguanischen April-Revolution 1954

Schon als Jugendlicher fühlte er in sich den Dichter, versuchte sich an elegischer Liebeslyrik. Die Anrufung an Gott gerichtet, heißt Gebet. Und solchen Anrufungen blieb er zeitlebens treu. Folgerichtig studierte er Literaturwissenschaft und Philosophie in Mexiko, danach noch drei Jahre an der Columbia State University in New York. Als Bildungsbürger bereiste er damals Italien, Spanien und die Schweiz. In Italien lag der Faschismus Benito Mussolinis 1949 längst am Boden, in Spanien baute er unter General Franco seine Macht weiter aus. Das kann einen politischen Menschen wie Ernesto Cardenal nicht kalt gelassen haben. Vielleicht studierte er dort am realen Subjekt die Verführbarkeit des Menschen, mag sein, dass ihn diese Reise dazu bewog, 1950 ein Theologiestudium in Mexiko und Kolumbien anzufangen. Es ist historisch verbürgt, dass er sich als junger Poet in Lyrikerkreisen tummelte, wo man, wie das dort eben immer so ist, berauscht vom Wein und den eigenen Worten, die Menschheit retten will.

Ernesto Cardenal war allerdings noch einen Zacken konsequenter, er war Mitglied renitenter literarischer Zirkel, schloss sich sogar einer revolutionären Jugendbewegung an. Dass er sich dann aber auch noch aktiv in der nicaraguanischen April-Revolution 1954 beteiligte – damals ging es um den Sturz des Diktators Anastasio Somoza Garcia – hätte ihn beinahe, wie vielen seiner Companeros den Kopf gekostet. Aber er konnte, so schreiben es die Annalen, im letzten Moment einem staatlich verordneten Massaker entrinnen. Er hatte als Christ nicht zur Waffe gegriffen, stattdessen mit Worten gekämpft, im Wissen, dass auf lange Sicht so ein Angriff viel wirkungsvoller ist.

Als politischer Flüchtling ging er 1956 ins Exil und wählte, für einen Dichter ungewöhnlich, erst einmal das öffentliche Schweigen, dachte aber nicht daran, das Dichten sein zu lassen. 1957 trat er in Kentucky in ein Trappistenkloster ein. Es ist sicher kein Zufall, dass sein Novizenmeister in dieser geistigen und geistlichen Sammlungsphase der als Dichtermönch bekannte Thomas Merton war. Unter seinem Einfluss ließ er das Verfassen von politischen Schmähgedichten bleiben und verlegte sich auf das, was das Christentum seit Paulus verkündet, auf Glaube, Liebe und Hoffnung. Und da die Liebe die Höchste unter diesen Dreien ist, schrieb er dort sein erstes lyrisches Hauptwerk Das Buch von der Liebe, das 1971 auf dem deutschen Buchmarkt erschien und die deutsche Linke sehr ansprach. In den folgenden Jahren wechselte er in ein mexikanisches Benediktinerkloster, widmete sich tiefer der katholischen Theologie und unterrichtete als Lehrer.
Sein in diesen Jahren entstandenes Werk Psalmen gilt als das lyrische Manifest einer Bewegung, die später als »Befreiungstheologie« firmierte und die römische Amtskirche erschütterte. Wie ein auffliegender Zugvogelschwarm verbreiteten sich seine Verse in der Welt und waren nicht mehr einzufangen. Das Buch wurde in zwanzig Sprachen übersetzt.

Nach seiner Priesterweihe 1965 schlug er aber nicht einfach eine klerikale Laufbahn ein, die ihm sicher eine veritable Bischofskarriere eingebracht hätte. Lieber gründete er eine Kommune – ein Horror für das katholische Kirchenverständnis jener Zeit. Dort entstand sein Hauptwerk Das Evangelium der Bauern, das vor allem im bauernkriegsgeschädigten Deutschland auf besondere Resonanz stieß. Sonst hat kaum ein christlich angehauchtes Werk bei den kirchenfernen Kaffeehaus-Revoluzzern soviel Nachhall gefunden. Von da an war der Zauselbart mit der schwarzen Baskenmütze eine linke Ikone.

Für Papst Johannes Paul II. war Cardenal ein Spalter

Als Cardenal 1970 nach Kuba ging, stand das System Fidel Castros mit seinen letztlich doch verbrecherischen Praktiken bei den antiamerikanischen Genossen noch hoch im Kurs. Hat er es gemerkt? Der realexistierende Sozialismus wurde von den linken Großbürgern, zu denen Cardenal nun mal zeitlebens gehörte, leider länger völlig verblendet gefeiert. Anders als bei niederen Ständen, die unter ein neues Joch gerieten und denen man nichts vormachen konnte. Revolutionstouristen, die für ein paar Monate das Land bereisen, bleiben solche Feinheiten verborgen. 1973 kam der Dichterpriester nach Deutschland. Er füllte Säle wie heute der Dalai Lama.

Ernesto Cardenal blieb der Zutritt in sein Heimatland Nicaragua weiterhin verwehrt. Als Exilant hielt er sich in Costa Rica auf und schloss sich der sandinistischen Befreiungsfront an. Als die FSLN 1979 in Nicaragua den Diktator Anastasio Somoza Debayle stürzte, konnte er zurückkehren und ließ sich zum Kulturminister küren. Doch eine verkommene Funktionärskarriere, wie sie in der DDR etwa der Dichter Johannes R. Becher machte, war dann doch nichts für ihn. Er plädierte – ganz christlich – gegen eine »Revolution der Rache«, zu seinen Verdiensten zählt in dieser Zeit die breit angelegte Alphabetisierungskampagne. Fast Dreiviertel der Bevölkerung konnten damals weder lesen noch schreiben. Auch dass er mehrmals den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini besuchte, sogar noch an dessen Sterbelager stand, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Wollte er eine verlorene Seele retten oder für humanere Bedingungen eintreten? Die Gründe dafür liegen im Dunkeln.

Das alles störte den polnischen Papst Johannes Paul II. gehörig. Er selbst hatte mit seiner spirituellen Unterstützung der Danziger Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc die Regierung in seinem Heimatland zum Wanken gebracht und letztlich damit den ersten Dominostein geliefert, der das ganze kommunistische System sowjetischer Prägung zum Einsturz gebracht hat. Gegen totalitäre Systeme war er allergisch.

Der Papst hatte Ernesto Cardenal dafür verantwortlich gemacht, dass er bei einem Besuch in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua von den siegestrunkenen Sandinisten niedergebrüllt wurde. Für ihn war der Befreiungstheologe ein Spalter. Das Tischtuch zwischen Rom und ihm war seitdem zerschnitten. Er enthob Cardenal kurzerhand des Priesteramtes. Dieser versuchte sich vergebens dagegen zu wehren. Auch sein Bruder Fernando, der unter den Sandinisten als Erziehungsminister diente, wurde aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen. Beide gründeten eine linksgerichtete Volkskirche, nachdem Ernesto Cardenals Kultusministerium aufgelöst wurde und man ihn als Politiker kaltstellte. Zum Bruch mit dem sandinistischen Revolutionsführer Daniel Ortega kam es dann endgültig 1994, weil er längst diktatorische Züge angenommen hatte. Von der Idee eines sozialistischen Humanismus aber distanzierte sich Cardenal nie. Zeitlebens pochte er darauf, »Sandinist, Christ und Marxist« zu sein.

Der Politiker wurde wieder zum Dichter. Im Reich der Worte gibt es keine Diktatur, weil die Poesie nicht die Gehirne der Menschen besetzen will, sondern ihre Herzen zu gewinnen sucht. In den Neunziger Jahren verfasste er die Gesänge des Universums. Der Cántico Cósmico blieb unvollendet, zählt aber heute zu den Meilensteinen der lateinamerikanischen Literatur. Der Dichter ließ nicht nach, Daniel Ortegas Amtsführung zu kritisieren, die von Nepotismus und Korruption geprägt war. Aus Angst vor politischer Verfolgung hielt er sich in den Nullerjahren dieses Jahrtausends vorwiegend in Europa auf, bestritt seinen Unterhalt mit Lesereisen und Engagements in internationalen sozialen Projekten. Erst mit dem Machtverlust Ortegas konnte er wieder in sein Heimatland zurückkehren.

Anfang Januar 2019 wurde Ernesto Cardenal mit einer schweren Lungenentzündung in Managua in ein Krankenhaus eingeliefert. Es sah nicht danach aus, dass er seinen 95. Geburtstag noch erleben würde. Vielleicht bewegte sein nahender Tod Papst Franziskus dazu, ihm entgegenzukommen. Am Krankenbett erfuhr Ernesto Cardenal, dass die Suspendierung aus dem Priesteramt aufgehoben werden würde. Das hat ihn offenbar so beflügelt, dass er wie ein Wunder aufstand und wandelte. Im Februar 2019 war er wieder offiziell berufener katholischer Priester – ein gutes Jahr später verstarb er nun am 1. März.

Ob er den Ausgang der Amazonas-Konferenz, der viele fortschrittliche Theologen tief enttäuschte, mit Bitternis zur Kenntnis nahm oder sich schon auf seine Begegnung mit Gott vorbereitete, darüber wurde nichts vermeldet. Ewigkeit auf Erden erlangt er allein über seine Verse. Sie erheben sich über die Zeiten und Menschen, die immer wieder neu leiden und lieben. Die Kirche muss nun ohne diesen großen Ermutiger auskommen, der die politischen Verhältnisse mit alttestamentarischem prophetischem Zorn anging und die Welt mit neutestamentarischer Güte zu versöhnen suchte.

Andreas Öhler, Die Zeit, 3.3.2020

Gedenktage

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Birte Männel: Aus Liebe zu seinem Volk wurde er Revolutionär
Neues Deutschland, 19.1.1985

Zum 70. Geburtstag des Autors:

„Uns bleibt die Hoffnung“
Berliner Zeitung, 27.1.1995

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Uwe Wittstock: Ernesto Cardenal 80
Die Welt, 20.1.2005

Hermann Schulz: Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstag
nicaraguaportal.de, 10.4.2005

Roman Rhode: Der Heldenpoet Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal
Der Tagesspiegel, 20.1.2005

Klaus Blume: Ernesto Cardenal wird 80 Jahre alt
Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2005

Klaus Blume:  Baskenmütze und Bauernhemd
nwzonline.de, 15.1.2005

Zum 85. Geburtstag des Autors:

epd: „Ich muss optimistisch sein“
sonntagsblatt, 24.1.2010

Erich Hackl: Lehrmeister des Gedichteschreibens
neues deutschland, 20.1.2010

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Gunnar Decker: Der Traum vom Anders-Leben
neues deutschland, 20.1.2015

kna: Nonkonformist Ernesto Cardenal wird 90
Münchner Kirchenachrichten, 19.1.2015

Peter B. Schumann: Christ und Marxist
Deutschlandfunk, 20.1.2015

Werner Hörtner: Das Leben von Ernesto Cardenal: Der Geld-Gott als Feind der Menschheit
Die Furche, 22.1.2015

Zum 92. Geburtstag des Autors:

Andreas Drouve Interview mit Ernesto Cardenal:Immer verbunden mit meiner Kirche“
domradio.de, 21.1.2017

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Michael Jacquemain: Marxist, Rebell und Priester: Ernesto Cardenal wird 95
kirche-und-leben.de, 17.1.2020

Natalia Matter: Der nicaraguanische Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt
Sonntagsblatt, 22.1.2020