Das Gesicht der Lyrik

Das Gesicht der Lyrik

Lyrik hatte hierzulande ein Gesicht, das ihre: ein schmales, zur Seite geneigtes Gesicht mit grossen sehnsuchtsvollen Augen, umrahmt von hellen Locken. Lyrik hatte ihre zarte, weissgewandete Gestalt. Bis heute gilt Erika Burkart als die Lyrikerin der deutschsprachigen Schweiz. Mit Jahrgang 1922 gehörte sie zu einer Generation grosser Dichterinnen. Sie war vier Jahre älter als Ingeborg Bachmann, zählte zwei Jahre mehr als Friederike Mayröcker. Sie brauchte das Abseits, den ungestörten Umgang mit Jahreszeiten und Pflanzen und war trotzdem alles andere als eine Sängerin der heilen Welt. Wie ja auch eine ihrer Vorfahrinnen, Annette von Droste-Hülshoff, im Versteck von Moor und Mergelgrube die schmerzhaften Brüche der eigenen weiblichen Existenz bedachte und in Gedichten austrug.

Erika Burkart bewohnte zusammen mit ihrem Mann, dem Autor Ernst Halter, die einstige Sommerresidenz der Äbte des Klosters Muri im aargauischen Althäusern bei Aristau. Dort, im Haus Kapf, wirkte sie wie eine verwunschene Landadlige. Doch war sie stets beschäftigt, lebte einfach, asketisch dem genauen Wort ergeben, schwelgerisch wohl nur gegenüber der Natur. Doch selbst diese zwang mitunter zu nüchterner Vorsicht, wie skeptische Texte bezeugen. Sie meinen die »globale Räumung durch Tod«, erzählen etwa, wie der Vogel, der, kaum hat er einen Admiral geschnappt, von der Katze gekapert wird und »erkaltet ohne Zuspruch«.

Ihre Prosabücher sprachen eindringlich von der Armut ihrer Kindheit, vom Angst einjagenden alkoholsüchtigen Vater in der Wirtsstube, von der geliebten Mutter, die die Familie mit Heimarbeit über Wasser hielt. Erika, die Tochter, wurde Primarlehrerin, übte den Beruf zehn Jahre lang aus. Im Roman Die Vikarin (2006) erstattete sie eindringlichen Bericht. 1952 wagte sie den Sprung, wurde freie Schriftstellerin. 1953 erschien ihr erster Gedichtband: Der dunkle Vogel, es folgten Sterngefährten (1955), Bann und Flug (1956), Geist der Fluren (1958). Sie liebte damals den Reim, die traditionelle Ausstattung des romantischen Gedichts. Hätte Erika Burkart unangefochten so weitergedichtet, sie würde heute zu den Vergessenen zählen. Sie brach aber mit den schönen Anfängen, setzte sich der Verlassenheit einer zerbrochenen Liebe aus, liess sich die überlieferten Versmasse und Sätze zerstören, schlug sich durch zu jenen freien Rhythmen und kargeren Tönen, zu jenen härteren Feststellungen, die seit den 1960er Jahren ihre Gedichte bestimmten – bei allem unverlorenen Hoffen auf die Natur.

Erika Burkarts erster Roman erschien – nicht von ungefähr – 1970. Moräne. Der Roman von Lilith und Laurin war eines der Ich-Bücher, wie jene Zeit sie liebte und begünstigte – eine tiefsinnig traurige Liebesgeschichte, ein poetischer Protest obendrein. Das Schreiben verhiess in dem Buch die Wiederauferstehung der Erzählerin Lilith vom »seelischen Tod«, den sie durch ihre tragische Liebe zu Laurin erlitten hatte. Dieser eigenwillig lyrisierende Débutroman Erika Burkarts sprach von dem fast mythischen Glauben ans Schreiben, der in den siebziger Jahren in besonderem Mass die Schriftstellerinnen erfasst hatte. Erika Burkart auf die Gedichte allein festzulegen, würde also einen groben Irrtum bedeuten. Ihr Prosaschaffen ist aus der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte nicht wegzudenken: Es erschien etwa 1979 der Roman Der Weg zu den Schafen, 1985 Die Spiele der Erkenntnis und 1994 Das Schimmern der Flügel. Jugendmythen. Diese Prosa suchte das Gedächtnis, das An-Denken, nicht minder als die Gedichte. Nur tat sie es ausführlicher und oft konkreter als die Lyrik. Am schönsten und einleuchtendsten wohl dann, wenn sie sich mit Kindheit und Jugend im aargauischen Freiamt beschäftigte.

Oft ist in den Romanen die Rede von der Mutter, die ihre Kinder, ihren bettlägerigen Mann mit Flickarbeiten über Wasser hält. Sie verbringt die Tage an der Singer-Nähmaschine, geht kaum aus dem alten Haus, das schon von den Vorgängern vernachlässigt worden ist. Ihr Ausblick ist eine Linde: »Ein paar Atemzüge lang ruhen ihre Augen auf der kahlen, der knospenden, der blühenden, der verblühten, der herbstgelben, der verschneiten Lindenkrone«. Von der umliegenden Landschaft erfährt sie nur durch die mündlichen und schriftlichen Schilderungen ihrer Tochter, der Ich-Figur. So hat das Schreiben – wie schon im Roman Der Weg zu den Schafen – mit einem Rapport zuhanden der Mutter zu tun. Auch in Das Schimmern der Flügel. Jugendmythen erscheint die Mutter als die Adressatin, auf die es ankommt. Für sie spannt die Autorin den Kinderhimmel nochmals aus.

Selbst die Gedichte lassen sich so verstehen, und als Lesende sind wir zugelassen zu diesem Dialog. Das Gedicht sei «ein Brief an Betroffene«, wie es im Band Stille fernster Rückruf heisst. Und so hat Erika Burkart selber viel gelesen, von Joseph Brodsky über Seamus Heaney und W.G. Sebald zu Andrzej Stasiuk – und natürlich immer auch Klaus Merz und Hermann Burger. Mit seinem roten Ferrari taucht Burger manchmal in einer ihrer Strophen auf, während sie als «Dichterin Irlande von Elbstein-Bruyère« in seinem Roman Brenner zum Tee einlädt.

Als bewusste und unermüdliche Spracharbeiterin setzte sie Vertrauen in ihre Mittel. Mit Worten sehe sie mehr, schrieb sie in Sternbild des Kindes. Sie dachte über Sprachwerdung als Menschwerdung nach, öfters auch über die Sprachwerdung des Gedichts. Dem Grundklang eines lyrischen Textes müssten sich die Einzelteile unterordnen. In den Aufzeichnungen Grundwasserstrom hob sie die gemeinsame mythische Wurzel von Dichtung und Musik hervor. Was sie besonders ergriff, waren die langsamen Sätze. So, Langsamer Satz, lautete denn auch der Titel eines ihrer späten Gedichtbücher. »lento lento, / bevor es Nacht wird«, stand darin.

Bis zur letzten Zeit ihres Schaffens, bis Ortlose Nähe (2005) etwa, wusste sie um die Traditionen, mit denen sie angetreten war, Rilke zum Beispiel. Um sie herum entwickelte sich seit Kriegsende – mit Günter Eich, Kurt Marti und andern – jene karge Moderne, die sie las und schätzte, die aber das Singen verbot und die schönen Wörter unterdrückte, welche sie eigentlich liebte. Aus der Not hat sie wunderbare Tugenden gemacht: die Wohlklänge ihrer manchmal festlichen, oft aber auch gedankenvoll fragenden Texte. Texte waren das, die zunehmend die Zerstörungen bedachten, welche die Menschen in der Natur anrichten. In der neueren Geschichte der schweizerischen Lyrik behauptet Erika Burkart – zusammen mit Meret Oppenheim und Silja Walter – ihren Platz neben Albin Zollinger und Alexander Xaver Gwerder, neben Giorgio Orelli und Philippe Jaccottet.

Für Ende April ist im Frankfurter Verlag Weissbooks Erika Burkarts Gedichtband Das späte Erkennen der Zeichen mit letzten Gedichten angekündigt. Nun wird das Buch, in dem freimütig vom Tod die Rede ist, zum Vermächtnis der Autorin.

Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 15.4.2010