Keine Einschüchterung durch Klassizität

Keine Einschüchterung durch Klassizität

»Ich lebe hier von Himmel, Wolke, Berg und See / vom See, der alles spiegelt / selbst den Abgrund, tief dort unten lichterlos«, so beginnt ein kleiner Zyklus von Cadenabbia-Gedichten, die Elisabeth Borchers in der Villa La Collina geschrieben hat. Dort wirkte sie mehrfach an der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung mit, mit eigenen Gedichten, aber auch als Kritikerin, die sich nicht scheute, jungen Talenten rhetorisches Vorlesetraining anzuraten. Die 1926 am Niederrhein geborene, im Elsaß aufgewachsene Dichterin ist am 25. September 2013 in Frankfurt am Main gestorben. Elisabeth Borchers hat »Gedichte unaufhörlich in den Tag hinein« gelesen, übersetzt und geschrieben. Die längste Zeit ihres Lebens hat sie seit 1960 beim Luchterhand Verlag in Neuwied, seit 1971 beim Suhrkamp Verlag, mit Autoren korrespondiert, Manuskripte begutachtet und lektoriert, Bücher herausgegeben und übersetzt. Wer fragt, woher sie die Zeit nahm, daneben selbst Gedichte zu schreiben wie das 1960 in der F.A.Z. abgedruckte, damals für viel Wirbel sorgende surrealistische Wiegenlied »eia wasser regnet schlaf«, der schaue sich ihren letzten Band an, nach dessen Erscheinen sie sich aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen hat. Zeit. Zeit (2006) heißt dieser Band, der zum richtigen Zeitpunkt kam, um die im Gedicht erfahrene und erfahrbar gemachte Zeit gegen die tickenden Weltuhren der technischen Moderne zu setzen. Das hat sie mit der ihr eigenen leisen, noblen Entschiedenheit getan. Elisabeth Borchers ist eine beharrliche Dichterin der Zeit. Ihre Gedichte geben vergänglichen Momenten Dauer und haben doch, indem sie die Zeit nur augenblickslang anhalten, am Vergehen der Dinge teil. 1961 erschien ihr erster Gedichtband, weitere folgten in zeitgerechten Abständen. Der Freund und Kollege Arnold Stadler hat ihre Gedichte gesammelt und in dem wunderbaren Band Alles redet, schweigt und ruft (2001) kommentiert. 2003 sind ihre Frankfurter Poetikvorlesungen erschienen: Lichtwelten. Abgedunkelte Räume. Das ist auch so ein sprechender Titel, der in die elsässische Kindheitslandschaft und vor allem in die Sprachwelten der Mitdichtenden führt, zu Nelly Sachs, Christine Lavant und anderen. Der norditalienischen Alpenlandschaft verdanken wir einige der schönsten Gedichte von Elisabeth Borchers. Einmal protokollierte sie die »Ereignisse eines ereignislosen Tages auf La Collina«. Eine andere Villa am Comer See mochte sie nicht so richtig – und widmete ihr kurzerhand das Gedicht »Nein«. Unerschrocken, eigene Kriegserfahrungen im Gedächtnis, flog sie am 13. September 2001, kurz nach dem Attentat auf die New Yorker Twin Towers, mit vielen nervösen Fluggästen von Mailand zurück nach Frankfurt. Elisabeth Borchers hat uns ein reiches Werk hinterlassen, lichtvolle, sprachpointierte Gedichte, die sich nicht durch Klassizität einschüchtern lassen und die »nicht Kenntnisse« voraussetzen, »sondern Erfahrungen“. Zum Beispiel: »Lernen, Zeit zu haben«.

Michael Braun, Park, Heft 66, November 2013