Die große Wiener Dichterin Elfriede Gerstl ist tot

Die große Wiener Dichterin Elfriede Gerstl ist tot

Im April erscheint ihr letzter, ein postumer Band: Lebenszeichen. Sie wusste, dass sie sterben würde: Am Gründonnerstag ist die österreichische Dichterin Elfriede Gerstl ihrer Krebserkrankung im Alter von 76 Jahren erlegen. Dass sie dem Holocaust entkommen war, verdankte sie einem Anne-Frank-Schicksal mit glücklichem Ausgang: Gemeinsam mit ihrer Mutter hatte sich das jüdische Mädchen in leer stehenden Wiener Wohnungen verborgen, einmal sogar in einem Kleiderschrank. Von den traumatischen Erfahrungen der NS-Zeit sprach Elfriede Gerstl kaum, gleichwohl wurde sie dadurch geprägt: Das Unstete ihrer Existenz, die sie meist in Kaffeehäusern verbrachte, das Sammeln von Hüten und Textilien aller Art – auf Flohmärkten und aus Nachlässen erworben – wurde ihr Markenzeichen. Wie ein Paradiesvögelchen von apartester, ganz altmodischer Eleganz schwebte, flatterte sie durch Wiens Innere Stadt. Ihre Freundin Elfriede Jelinek bescheinigte ihr:

Diese zarte kleine Person, die immer im Hellen herumgelaufen ist, hat das Dunkelste erlebt, ohne je selbst verdunkelt gewesen zu sein in ihrem Wesen und Schreiben.

Sie war eben nicht bloß eine »Szenefigur«, ein liebenswertes, ja verehrtes Original, sondern auch eine sehr besondere Schriftstellerin. Stets saß und stand sie am Rande, weil man von dort besser beobachten kann. Unter anderen das Männchenhordenverhalten der Wiener Gruppe, der sie einst angehört hatte und dem sie im Montageroman Spielräume (1977) ein Denkmal aus lauter scharfen Erkenntnissplittern setzte. Sie gebot über sämtliche Mittel und Techniken der literarischen Avantgarde, verwendete sie jedoch nie, um damit aufzutrumpfen. Ihr Wortsuchen und -finden besaß den Charme des Beiläufigen, der Leichtigkeit. Die Sprachjongleurin Elfriede Gerstl verfasste auch kluge Essays, vor allem aber lakonisch graziöse Gedichte und poetische Aphorismen, ihre »Denkkrümel«. Ihr Weltbild war voll Witz und – dahinter – voller Trauer:

anfangs
für wenige
und dann
nur mehr für sich.

Ulrich Weinzierl, Die Welt, 11.4.2009

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