Das Leben, ein Buch

Das Leben, ein Buch

– Zum Tode des Lyrikers und Philosophen Edmond Jabès. –

Im Anfang war alles wüst und leer und finster auf der Tiefe. Der Geist Gottes hatte die Erde für immer verlassen. Als Fremdlinge irrten die Menschen umher und begannen, in die Leere hinein Fragen zu stellen.

Die Szene ist uralt. So alt wie der Glaube an den unerkennbaren Gott. Oder den »ursprungslosen Ursprung«, wie man heute in Frankreich sagt. Die jüdischen Schriftgelehrten sind dem flüchtenden Gott seit langer Zeit in endlosen Kommentaren auf der Spur. Erfolglos. Gott ist weg.

In unserer Zeit ist dieses hohe Amt auf die Dichter und Philosophen übergegangen. Dichter wie Paul Celan und Henri Michaux, Philosophen wie Jacques Derrida und Maurice Blanchot haben die Leere mit ihren Gedichten und Theorien bevölkert, die auf nichts als auf Sand gebaut sind. Denn es sind gottverlassene Gedichte und Gedanken, deren Worte keinen Halt haben, außer den Halt anderer Worte. Die einen halten das für eine große Freiheit, die anderen für eine große Katastrophe und viele einfach nur für einen großen Unsinn.

Edmond Jabès ist diesem Unsinn, dieser Katastrophe und dieser Freiheit ein Leben lang in seinen Büchern nachgegangen. Das siebenbändige Buch der Fragen, das dreibändige Buch der Ähnlichkeiten, das Kleine Buch der unverdächtigen Subversion, das Buch des Dialogs, seine Gedichte und Selbstkommentare (Es nimmt seinen Lauf, Die Schrift der Wüste) sind ein großer, zusammenhängender Versuch, ein Buch aus nichts zu schreiben, ein Buch über die Leere, den Unsinn und den Gott, den es nicht gibt. Die Idee für dieses Über-Buch hat Jabès von Mallarmé. Dessen nie geschriebenes Buch war ein Traum vom Ende der Literatur. Das letzte Buch sollte sich in einem endlosen Wortspiegelkabinett in sich selber auflösen. Der letzte Spiegel sollte nichts als das Weiß einer unbeschriebenen Seite zeigen, »den weißen Grund, auf dem die Schatten der Worte tanzen«, wie der Buchspielkünstler Edmond Jabès das nannte. Oder die »leere Transzendenz«, wie man dasselbe Rätsel etwas feierlicher in Deutschland umschrieben hat.

»Als ich, noch als Kind, zum erstenmal meinen Namen schrieb«, sagt eine der ungezählten Buchfiguren im Buch der Fragen, »war mir bewußt, daß ich ein Buch begann.« Für Edmond Jabès gab es nur das Buch. Alles, was der Mensch unternimmt, läuft auf dieses Buch hinaus, in dem die Schrift, die Auslegung der Worte wichtiger ist als das Leben, die weißen Stellen wichtiger als die schwarzen.

Möge alles weiß sein
Weiß das Leise
Weiß die Blüte
Weiß der Abschied

Weiß ist für den Buchmenschen Jabès die Farbe des Glücks. Weiß ist das Papier, weiß sind die Zwischenräume des Schweigens, die die Worte erst sichtbar werden lassen, und weiß ist der Wüstensand in Ägypten.

1912 in Kairo geboren, ist Edmond Jabès oft, nur mit einem Leinentuch bekleidet, in die Sinai-Wüste gegangen, um sich »dieser Person zu entledigen«, die er selber war. Die Wüste ist dazu der geeignete Ort. Sie ist die Heimat der Schriftsteller. In der Wüste kann man nicht stillstehen. Die Wüste ist überall gleich und überall leer. In der Wüste gibt es kein Ziel, man kann in ihr nur umherirren, von Sandberg zu Sandberg.

Sie zwingt einen, alles abzuwerfen, was überflüssig ist. Und man stellt fest, daß so gut wie alles überflüssig ist.

In den Büchern von Edmond Jabès geht es nur um Dinge, die auch in der Wüste noch zählen.

Das Buch der Fragen ist voller Menschen, die in kurzen, unverbundenen Merksätzen, in rätselhaften Epigrammen über diese Dinge sprechen, ohne ein Gespräch zu führen. Es sind vielstimmige Wüstentelegramme und Minimonologe über die ewig gleichen Fragen: die Abwesenheit, die Erinnerung, das Jude-Sein und das Exil. Das Welten-Buch und das Spiel vom Fragen haben auch deutsche Schriftsteller beeindruckt. In den Theaterstücken von Botho Strauß und Peter Handke findet man die Spuren des Buchs der Fragen wieder.

Niemand hat in diesem Buch das letzte Wort, es gibt keine Antwort, jeder Kommentar muß neu kommentiert werden. Alles, was es gibt, gibt es nur, weil es geschrieben wurde. Selbst die Liebe. Die Liebe gibt es nur in den Liebesbriefen. Sarah, die im Buch der Fragen Yukel liebt, schreibt:

Ich habe dir geschrieben. Ich schreibe dir… Ich vermähle mich mit jeder Silbe, bis ich nurmehr ein Körper von Konsonanten, eine Seele von Vokabeln bin. Ist’s ein Zauber? Ich schreibe seinen Namen nieder, und er wird zu dem Mann, den ich liebe… Ich schreibe:  »Ich komme zu dir zurück, du Lieber…« Und schon bin ich der Flügel, der mir den Geliebten wiederbringt.

Nicht Blut, sondern Tinte fließt in diesen Herzen. Die Liebe ist eine Sache der geglückten Formulierung. Ein Glück aus Papier.

Doch liegt das Glück weniger in den geschriebenen als in den ungeschriebenen Worten. Man muß es zwischen den Zeilen, zwischen den Buchstaben entdecken. Die Bücher von Edmond Jabès vollenden sich erst während des Lesens. Man kann aus ihnen nicht nur einen Sinn heraus-, sondern viele andere Sinne in sie hineinlesen. Ihre Bedeutung ist immerzu in Bewegung, wie die Dünen der Wüste. »Es liegt auf der Hand«, heißt es in »El, oder Das letzte Buch«, »daß jedweder Sinn angesichts des Nichts ein Un-Sinn ist.« Das Buch, das Nichts und die Wüste sind leere Spiegel für mindestens tausend und eine Vorstellungen.

»Die totale Offenheit« dieses Wüsten-Denkens, das auf jede Frage mit einer anderen Frage antwortet, war für Jabès »die einzig mögliche Gewißheit des Intellektuellen«. Deswegen sind seine rätselhaften und ganz und gar unwirklichen Bücher nicht unpolitisch und nicht nur feinkörnige Kunst-Nichtigkeiten. Ihr unaufhörliches und unersättliches Fragen ist subversiv. Politische Wahrheiten hingegen ersticken an ihren Antworten.

Während der Suez-Krise wurden Jabès und seine Frau, die beide von Kindheit an Französisch sprachen, aus Ägypten vertrieben. Die Familie emigrierte 1956 nach Paris. Der »Auszug aus Ägypten« war für den Juden Edmond Jabès das Ur-Erlebnis des jüdischen Exils. Eines Exils, das er nicht in Paris, sondern einzig in der Dichtung fand. Oder genauer: im Raum zwischen den Worten, in dem die Wortbedeutung noch offen ist:

Mondfisch oder Kugelfisch, Leitfisch oder Plattfisch – die, wenn sie angebissen haben, einen Moment lang zappeln, zwischen dem Blau des Himmels und dem Blau des Meeres, bevor sie zu Fremdlingen geworden auf dem Boden erstarren.

Um das Fremdwerden und das Erstarren der Worte zu verhindern, muß der Schriftsteller »die Wörter nach und nach dazu bringen, sich für seine Bücher zu interessieren«. Denn die Worte haben ein eigenes Leben. Sie ziehen andere Worte nach sich, wie in einem Buch immer noch ein anderes steckt, ein Widerspruch zu einem neuen Widerspruch führt. Der Anfang des Wortspiels ist unauffindbar. Ein Ende nicht in Sicht. Das Exil der Menschen in den Worten wird erst mit den Menschen zu Ende gehen. »Als BUCH-Menschen«, sagt Jabès, »werden wir niemals eine Bleibe haben. Wir werden in den Wörtern sterben.« Edmond Jabès ist gestorben, am 2. Januar in Paris.

Iris Radisch, Die Zeit, 11.1.1991

Lebenslauf
Nachruf
Gedenktag

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Felix Philipp Ingold: Innere Echos
Neue Zürcher Zeitung, 14.4.2012