
Orpheus aus Belfast
– Mit dem 1941 geborenen Derek Mahon verliert Irland einen seiner profiliertesten Lyriker. Mahons schlicht wirkende, aber vollendet elegante Sprache verband Motive aus der klassischen Antike mühelos mit Bildern vom Rand der irischen Alltagswelt. –
In Irland schätzte man ihn als einen der führenden zeitgenössischen Lyriker, dem deutschsprachigen Publikum wurde Derek Mahon erst spät vorgestellt; doch die 2011 unter dem Titel Ovid auf Reisen erschienene Gedichtauswahl liess keinen Zweifel am Format dieses Dichters.
Mahon, 1941 in einem protestantischen Quartier Belfasts geboren, studierte am Dubliner Trinity College, wo er sich mit anderen aspirierenden Lyrikern – unter ihnen der spätere Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney und der ebenfalls aus Belfast stammende Michael Longley – anfreundete. 1965 wechselte er für ein Jahr an die Sorbonne nach Paris, im selben Jahr publizierte er eine erste, schmale Gedichtsammlung; dann folgten zwei Jahre in Kanada und den USA.
Nach seiner Rückkehr arbeitete Mahon in Belfast und Dublin als Lehrer, später auch als freier Journalist in London. Öffentliche Anerkennung für sein dichterisches Schaffen fand er 1968 mit dem Band Night Crossings, weitere Lyriksammlungen folgten in regelmässiger Kadenz. Daneben war Mahon auch als Herausgeber und Übersetzer tätig, unter anderem übertrug er eine Auswahl von Gedichten des im Waadtland geborenen Philippe Jaccottet ins Englische.
In einer äusserst fruchtbaren Spätphase legte Mahon zwischen 2005 und 2010 gleich vier Gedichtbände vor, von denen zwei mit dem von der Irish Times ausgerichteten Poetry Now Award ausgezeichnet wurden. Nach dem Lockdown im vergangenen März beschloss der irische Fernseh- und Radiosender RTÉ seine abendliche Nachrichtensendung jeweils mit Mahons von ihm selbst vorgetragenen Gedicht »Everything Is Going to Be Alright«.
Am 1. Oktober ist Derek Mahon 78-jährig im irischen Cork gestorben.
Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 2.10.2020