Jagen wir lieber Kakerlaken

Jagen wir lieber Kakerlaken

– Hört zu, Freunde! Dieser Verehrung für mich geht wirklich zu weit. Ich bin einer wie ihr alle, nur besser. –

Auf Daniil Charms zu bestehen ist nicht nur Herzenssache, sondern Notwendigkeit.

Man kann Peter Urban, dem deutschen Übersetzer und Kenner des Charms’schen Werkes, nur zustimmen. Niemand hat die mörderische Brutalität der Stalin-Zeit, die Entfremdung und Entmenschlichung des Individuums, aber auch die Absurdität unser aller Existenz schockartiger auf den Punkt gebracht. Manche seiner Texte lesen sich wie Kafka mit Düsenantrieb, obwohl er den Prager trotz guter Deutschkenntnisse nicht gekannt haben dürfte. Beckett und das absurde Theater, deren Parodie und Dekonstruktion hat der 1905 in Petersburg geborene und 1942 im Leningrader Gefängnis verhungerte Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Zeichner vorweggenommen. Trotz der ihr inhärenten Gewalt sind Charms’ Texte von banalen und grausamen Vorfällen, Zufällen und Unfällen unschlagbar witzig. Das ist kein Widerspruch, denn Kritik an der gleichmacherischen Sowjetgesellschaft, an linkem wie rechtem Spießertum und russischer Prüderie sind bei Charms untrennbar mit Esprit und schwarzem Humor verbunden. Ernst und Spott, Existenzielles, Gefühle, Ironie und Nonsens sind eins, selbst in den Briefen aus Verbannung, Armut und Bedrohung. Charms ist, vielleicht mit Ausnahme Gogols, das größte Genie russischen Humors.

»Liebe Tamara Aleksandrovna Valentina Efimovna, Leonid Saveljevic, Jakov Semenovic und Valentina Efimovna«, schreibt Charms 1932 aus der Verbannung, verurteilt wegen angeblich konterrevolutionär-monarchistischer Verschwörung.

Übermitteln Sie meinen Gruß an Leonid Saveljevic, Valentina Efimovna und Jakov Semenovic. Wie geht es Ihnen, Tamara Aleksandrovna, Valentina Efimovna, Leonid Saveljevic und Jakov Semenovic? Was macht Valentina Efimovna? Schreiben Sie mir unbedingt, Tamara Aleksandrovna, wie Jakov Semenovic und Leonid Saveljevic sich fühlen. Sie alle sind mir derart gegenwärtig. Jacov Semenovic ist für mich wie ein leiblicher Bruder und eine leibliche Schwester, auch Sie sind wie eine Schwester oder, äußersten Falles, wie eine Cousine. Aber im Traum erscheint mir niemand von Ihnen, und ich wundere mich sogar, warum das so ist.

Abgedruckt ist dieser Brief, neben weiteren Texten, Zeichnungen und Fotos, im wunderbaren Charms-Dossier der aktuellen Ausgabe des Schreibhefts von Norbert Wehr. Und wo wir gerade dabei sind: Unverzichtbar für alle Liebhaber nicht nur der russischen Literatur sind die gesammelten »Fälle« in der Friedenauer Presse.

Charms’ Kleidung – er trug britische Mode des Klassenfeindes – und sein Verhalten in der Öffentlichkeit, seine fast schon subversive Höflichkeit in Zeiten der Verrohung waren Teil des Gesamtkunstwerks Charms. Über dreißig Pseudonyme hat sich Daniil Iwanowitsch Juwatschow, so sein Geburtsname, gegeben. Mit »Charms« unterschrieb der charmante Sonderling und poetische Anarchist die meisten seiner Texte, die er sämtlich ohne Hoffnung auf Veröffentlichung im Geheimen schrieb und die erst Jahrzehnte später nach und nach ans Tageslicht kamen. Den Hausverwalter übrigens sollen die ständig wechselnden Namensschilder auf Charms’ Tür zum Wahnsinn getrieben haben.

Mit Gedichten und Geschichten für den staatlichen Leningrader Kinderbuchverlag hielten sich Charms, sein Freund Alexander Wwedenski und ihre Mitstreiter der avantgardistisch-parodistischen Künstlervereinigung Oberiu (Vereinigung der realen Kunst) nach Publikations- und Auftrittsverbot über Wasser. Russlands Kinder waren und sind noch immer begeisterte Charms-Fans. Auch seine inoffizielle, »erwachsene« Literatur spielt mit kindlicher Sprachfantasie und sich naiv gebendem Wortwitz. Charms’ Pointen, deren Besonderheit meist darin liegt, eine Pointe, eine Logik, einen Sinn gerade zu verweigern, die Erwartungen des Lesers und literarische Konventionen zu untergraben, funktionieren im Sozialismus ebenso wie in der freien Marktwirtschaft, im Westen wie im Osten, damals wie heute. An seinem 100. Geburtstag ist Charms immer noch aktuell und weit mehr als der nur mehr historisch interessante Pathologe eines totalitären Regimes.

Einst aß Orlov zu viel Erbsenbrei und starb. Und als Krylov davon erfuhr, starb auch er. Und Spiridonov starb von ganz allein. Und Spiridonovs Frau fiel von der Kommode und starb ebenfalls. Und Spiridonovs Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonovs Großmutter ergab sich dem Suff und trieb sich auf der Straße rum. Und Michajlov hörte auf sich zu kämmen und kriegte die Krätze. Und Kruglov malte eine Dame mit Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrestov bekam telegraphisch 400 Rubel und gab damit dermaßen an, dass man ihn entlassen mußte. Lauter gute Menschen, und können keinen kühlen Kopf bewahren.

Wir lesen diese Kurz- und Kürzestgeschichten, Gedichte, Stücke, Dialoge, die unvergleichlichen Briefe. Wir müssen lachen, doch schon bleibt uns das Lachen im Halse stecken. Kaum fangen wir aber an zu reflektieren, macht sich Charms schon wieder darüber lustig, dass wir das Leben philosophisch nehmen. Charms verweigerte sich der sowjetischen Forderung nach Realismus und schrieb, wie das Leben wirklich ist: brutal, bitter, grotesk, trotzdem auch sexy und immer tragikomisch. Er ist der unumstrittene Meister des lässigen Schlusssatzes: »Reden wir lieber nicht weiter darüber«, heißt es dann, oder »Ach! Ich würde noch mehr schreiben, aber auf einmal ist das Tintenfass verschwunden«.

Erst biß er sich alle Fingernägel ab, dann auch die Zehennägel. Leser, denk dich hinein in diese Fabel, und dir wird ganz schlecht.

Mein Favorit aber lautet: »Jagen wir lieber Kakerlaken«. Auf Daniil Charms zu bestehen ist nicht nur Notwendigkeit, sondern Herzenssache.

Mathias Schnitzler, Berliner Zeitung, 30.12.2005

Gedenktage

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Mathias Schnitzer: Jagen wir lieber Kakerlaken
Berliner Zeitung, 2.9.2011

 

Zum 75. Todestag des Autors:

Doris Liebermann: Großmeister grausamer Paradoxien
Deutschlandfunk, 2.2.2017