Am Ende des Vortags

Am Ende des Vortags

– Wo er auftrat, war die Welt sofort anwesend. Weit und breit keine Provinz, keine geschlossenen Räume, Fenster auf: Was kostet die Welt… Und wenn man an dem Haus in unmittelbarer Nähe des Münchener Prinzregententheaters vorbeigeht, in dessen oberstem Stockwerk er viele Jahre lebte und übersetzte, glaubte man immer für zwei, drei Augenblicke weit weg zu sein, im brasilianischen Sertao, am Rio della Plata, in Bahia, in Bueonos Aires, am Tejo in Lissabon, an den Küsten der Algarve. Carl Wilhelm Macke zum Tod des Übersetzers Curt Meyer-Clason. –

So leidenschaftlich in die Welt der Poesie und Prosa fremder Länder verführen wie er konnten nur wenige. Schwer war es, seiner passioniert vorgetragenen Liebe zur Literatur nicht zu erliegen. Und nur wenige konnten auch so zornig werden auf Verleger, Lektoren, auf Kritiker, auf Bürokraten, die noch nie gesehen haben, wie sich junge Brasilianerinnen bewegen, aber glauben etwas von Übersetzungen zu verstehen. Einer, der Schriftsteller wie Guimareas Rosa, Amado, Cabral de Melo Neto oder Miguel Torga zu seinen Freunden zählte und tausende von Seiten lateinamerikanischer und lusitanischer Literatur übersetzt hat, musste unter dem Verfall der deutschen Alltagssprache leiden.

Das Geheimnis des Übersetzens aus einer anderen Sprache und einer anderen Kultur, daran appellierte Meyer-Clason immer und immer wieder, heißt die »Farbe der Fremdheit« erkennbar machen. »Mein Handwerk« , so erläuterte Curt Meyer-Clason einmal in einem Gespräch, »beginnt da, wo der echolose Raum des Hörsaales aufhört. Als Übersetzer versuche ich, ein Zwillingsbruder des Autors zu sein. Ich nehme mir immer vor, in seinem Namen und in seinem Geist, mit seiner Feder in meiner Sprache ein neues Buch zu schreiben. Den Text in eine neue Landschaft zu übersetzen, so wie man über einen Fluß setzt. Der Ton kommt mir vor dem gedruckten Wort: Schritt, Trab, Galopp oder Andante, Moderato, Scherzo, Adagio, Presto. Der Satz muß komponiert sein.«

Von einigen in Hörsälen geschulten Literaturwissenschaftlern sind die Übersetzungen von Curt Meyer-Clason aus dem spanischen und portugiesischen Sprachraum auch gerügt worden. Er übersetze viel zu frei, lautet eine der wiederkehrenden Kritiken. Aber alle, voran die Autoren, deren Werke Meyer-Clason ins Deutsche übersetzt hat, waren voll des Lobes für die einzigartige Musikalität, den Rhythmus, die Expressivität, die von diesen Übersetzungen ausgehen. Da übersetzte einer, der die Seele Lateinamerikas sehr genau kennt, der die, wie Alejo Carpentier es einmal gesagt hat, »wunderbare Wirklichkeit Lateinamerikas« verstanden hat, der den Geschichten mehr vertraut als den Tatsachen. So übersetzte nur einer, der auch etwas in seinem eigenen Leben gesehen und der die fremden Sprachen in den alltäglichen Universitäten auf den Straßen, in den Bars, an den Stränden, in den hellen und schattigen Winkeln der Städte erlernt hat.

In seinen 1979 erschienenen Portugiesischen Tagebüchern lässt Meyer-Clason an einer Stelle sein Leben Revue passieren:

Nach dem Besuch des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart bis zur Unterprima, hatte ich eine Banklehre gemacht, dann im Baumwollimport eine kaufmännische Ausbildung erhalten und als Baumwollklassierer und Korrespondent in Bremen und Le Havre gearbeitet. Für Edward T. Robertson & Son, Boston/Mass., USA, Cotton-Controller in Sao Paulo, von dort aus Brasiliens Häfen befahrend. In der argentinischen Provinz Santa Fe mit den Peones zum Märken der Jungstiere in die Pampa geritten; in Porto Alegre, Rio Grande do Sul, eine Möbelfirma verwaltet. In der Internierung [zu der ihn Ende des Weltkrieges die brasilianische Regierung wegen angeblicher Spionage verurteilt hatte] lesen gelernt: Rilke, Thomas Mann, Friedell, Montaigne, Pascal, Proust, Bernanos, Berdjiajew, Buber, die großen Russen. Anschließend im Lebensmittelhandel von Rio de Janeiro Kompensationsgeschäfte durchgeführt (brasilianisches Pinienholz gegen schottischen Whisky).

Wie ein Neugeborener, sagte CMC immer, sei er 1954 von Brasilien nach Deutschland zurückgekehrt. Um wenigstens lesend den Kontakt zu seinem geliebten Brasilien zu behalten, ist er dann immer voller Sehnsucht in München unentwegt in das brasilianische Konsulat gegangen. Mit seiner preußischen Herkunft hat er zwar spöttisch abgerechnet in der Autobiographie Äquator – aber Spuren dieser Prägung waren immer vorhanden: im Gang, in der Verbindlichkeit, in der Entschiedenheit des Urteils. Vielleicht hat er sich auch so sehr in die Übersetzungsarbeit hineingestürzt, um sich und vor allem den Lesern zu zeigen, dass es eine ganze andere, leichtere, sinnlichere Art zu Leben gibt als dieses phantasielose teutonisch-rationale Funktionieren. »Canto ergo sum« und nicht das cartesianische »Cogito ergo sum« war ihm seit seinem Brasilien-Aufenthalt zum Lebensmotto geworden.

Aus der unüberschaubar langen Liste der übersetzten Werke ragen einige Titel ganz besonders hervor: Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez, der Grande Sertao: Veredas von Joao Guimaraes Rosa, zu dem Curt Meyer-Clason eine besonders enge freundschaftliche Beziehung besaß, dann die Memoiren von Pablo Neruda Ich bekenne, ich habe gelebt, Jorge Amados Nächte in Bahia, eine große Zahl der Gedichte von Jorge Luis Borges. Von den portugiesischen Schriftstellern ist besonders der Anfang 1995 verstorbene Miguel Torga zu erwähnen, dessen Werk Curt Meyer-Clason ins Deutsche übertragen hat.

Die deutsche lesende Öffentlichkeit verdankt Curt Meyer-Clason auch die Übersetzung vieler hier weniger bekannter Lyriker aus Lateinamerika und eines dicken Bandes mit neuerer portugiesischer Lyrik des XX. Jahrhunderts.

In den siebziger Jahren leitete Meyer-Clason für einige Zeit das Goethe-Institut in Lissabon. Den Portugiesischen Tagebüchern kann man entnehmen, gegen welchen Widerstand er in den damaligen Jahren der Revolution eine deutsche Kultureinrichtung zu einem Laboratorium moderner Kulturarbeit gemacht hat. Enzensberger, Walser, Peter Weiss, Grass, Kroetz und andere lud Meyer-Clason damals zu Lesungen nach Lissabon ein. Die Unterstützung dieser engagierten Kulturvermittlung in den Anfangszeiten des demokratischen Portugals durch die staatlichen Stellen der Bundesrepublik hielten sich in jenen Jahren, vorsichtig formuliert, in engen Grenzen. 1976 wurde Meyer-Clason »aus Altersgründen” von der Leitung des Goethe-Instituts in Lissabon abgelöst.

Entfernt von allen offiziellen Verpflichtungen und mit den angehäuften Erfahrungen eines langen Übersetzerlebens arbeitete Curt Meyer-Clason in den ihm noch verbliebenen Münchner Jahren als freier Übersetzer unentwegt im Bergwerk des Wortes. Noch in den neunziger Jahren erschienen Übersetzungen von Darcy Ribeiro, Guimaraes Rosa, Torga, Eugenio de Andrade. Das Geheimnis eines bis ins hohe Alter hinein so produktiven und wachen intellektuellen Lebens, ist die Phantasie, die Leidenschaft für die Literatur und für ein Leben, über das er ein Motto gesetzt hatte, dass ihm sein großer Lehrer und Freund Guimaraes Rosa gelehrt hat: »Der heutige Tag ist nur ein Vortag«. Im biblischen Alter von 101 Jahren starb Curt Meyer-Clason am 13. Januar 2012. Aber es war ja nur ein Vortag…

Carl Wilhelm Macke, CULTurMAG, 18.1.2012