Münchens fast vergessener Dichter

Münchens fast vergessener Dichter

– Christian Morgenstern wurde am 6. Mai vor 150 Jahren in München geboren. Doch in seiner Heimatstadt erinnert fast nichts an den großen Dichter. Die einzige Ausstellung findet man nahe Berlin. –

Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen… Weil nicht sein kann, was nicht sein darf… Das kennen Sie? Und wer hat’s erfunden? Ein waschechter Münchner, der Dichter Christian Morgenstern, der vor 150 Jahren, am 6. Mai 1871, in der damaligen Theresienstraße 12 geboren wurde.

Doch wie das Haus aussah, das weiß man nicht, es existiert nicht mehr, zerstört im Zweiten Weltkrieg, so wie auch die Person Morgensterns im öffentlichen Gedächtnis hinter seinen Gedichten verborgen scheint. Die glücklichsten Jahre seines Lebens waren aber wohl die in München, wo er als Sohn eines Landschaftsmalers und einer Landschaftsmalertochter geboren wurde – die Liebe zur Natur ist ihm mitgegeben und bleibt eine Konstante in seinem Leben, wie Jürgen Raßbach sagt, Vorsitzender der Christian-Morgenstern-Gesellschaft im brandenburgischen Werder.

Schon als Siebenjähriger sieht sich Morgenstern selbst als »zukünftiger Landschaftsmaler« in einem Brief an seine Tante. Doch letztlich gehen seine Begabungen eine Symbiose ein: »Ich bin Maler bis in den letzten Blutstropfen hinein. – Und das will nun heraus ins Reich des Wortes, des Klanges; eine seltsame Metamorphose«, schreibt er 1894.

Die Natur bleibt dabei immer zentral. »Das Zelt wäre eine angemessene Wohnstatt«, soll der Dichter später befunden haben. Die Münchner Kindheit sei eine paradiesische Zeit gewesen, erzählt Raßbach, »in der die Eltern eine sehr freizügige Erziehung entfaltet haben«. Nach kurzer Zeit ziehen die Morgensterns an die Äußere Nymphenburger Straße, in eine Villa mit großem Garten. Der Vater malt im Freien, die Mutter, lungenkrank, braucht auch den Aufenthalt an der frischen Luft. Doch sie stirbt früh an ihrer Krankheit, mit der sie den Sohn wohl angesteckt hat und an der er sein kurzes Leben lang leiden wird.

Der Tod der Mutter ist überhaupt »der schwerste Schlag seines Lebens gewesen«, sagt Raßbach. Der junge Christian verlässt München, der Vater kann sich allein nicht um den Neunjährigen kümmern. Schlimm sind die Jahre in einem Internat in Landshut, in dem der sensible Junge sich unverstanden fühlt – und wohl auch ist. Der Vater heiratet erneut, doch über die Jahre zerbricht das einst innige Verhältnis zwischen den beiden Morgensterns.

Der Vater habe den Sohn in Querelen rund um Scheidungen hineingezogen, erzählt Raßbach, auch die vermeintlich brotlose Kunst des dichtenden Sohnes hat er wohl abgelehnt. Christian Morgenstern schreibt nach einem abgebrochenen Nationalökonomiestudium für verschiedenste Zeitschriften, auch für die in München erscheinende Jugend, die dem Jugendstil ihren Namen gab.

Mit 22 Jahren bricht die Tuberkulose auch bei ihm aus – in den ihm noch bleibenden Jahren werden die Krankheit und immer wiederkehrende Sanatoriumsaufenthalte sein Leben prägen. »Melancholie und Freude sind wohl Schwestern«, erkannte einst Erich Kästner, passenderweise in »Der Mai«, und so war es auch bei Morgenstern: Heitere Gedichte und tieftraurige Poesie wechselten sich ab.

»Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel«, so dichtet er 1899.

Wisst Ihr weshalb? Das Mondkalb verriet es mir im stillen – das raffinierte Tier tat’s um des Reimes willen.

Fantasiewesen wie das Nasobem und der Nachtschelm entstehen. Ganz anders die Stimmung im »Schicksals-Spruch«:

Unhemmbar rinnt und reißt der Strom der Zeit, in dem wir gleich verstreuten Blumen schwimmen, unhemmbar braust und fegt der Sturm der Zeit, wir riefen kaum, verweht sind unsre Stimmen.

Expressionismus, Dadaismus, das lasse sich in Morgensterns Werken finden, sagt Raßbach. Großen Zuspruch habe er erhalten, etwa für seine humoristisch-bösen Galgenlieder, aber auch viel Unverständnis – erst recht, seit sich der Dichter, immer wieder ans Bett gefesselt durch seine Krankheit, religiösen Fragen zuwendet, dem Buddhismus, der Mystik und schließlich der Anthroposophie Rudolf Steiners, einer Art Erforschung des Übersinnlichen, die den Menschen als Beginn der Evolution ansieht.

Morgensterns Publikum, sowie seine Dichterkollegen, reagieren sehr gespalten auf diese Entwicklung. Kurt Tucholsky etwa habe dies vehement abgelehnt, sagt Raßbach. Was bleibt nun von Morgenstern, dem Vielseitigen, der auch Werke von Walter von der Vogelweide und Robert Walser herausbrachte, Lektor war und Henrik Ibsen aus dem Norwegischen übersetzte – den Vertrag unterschrieb er übrigens, als er noch gar kein Norwegisch beherrschte.

»Er wird ständig verlegt«, beobachtet Raßbach, »die Galgenlieder, Gedichte für Kinder, Aphorismen – es gibt eine ungebrochene Popularität seines Werks, aber in der Wissenschaft stagniert es etwas«. Während es zahlreiche nach Morgenstern benannte Schulen in Deutschland gebe, habe er keinen Eingang in die Lehrpläne gefunden, sagt Raßbach, selbst ehemaliger Lehrer.

»Total missverstanden und unterschätzt« sei sein seriöses dichterisches Werk. »Das innovatorische Potenzial Morgensterns zeigt sich in der bislang von der Forschung fast gänzlich vernachlässigten Rezeptionsgeschichte«, schrieb auch Waldemar Fromm, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität und Leiter der Arbeitsstelle für Literatur in Bayern, anlässlich des 100. Todestages von Morgenstern 2014.

Bis zu Ernst Jandl und der »komisch-satirischen Lyrik der Neuen Frankfurter Schule« reiche Morgensterns Wirkung. In seiner Geburtsstadt sind seine Spuren verwischt, beide Häuser der Kindheit verschwunden, seine Urne steht in der Schweiz auf dem Gelände des Goetheanums, einer von Steiner gegründeten Hochschule. Einzig eine Morgensternstraße gibt es, in Solln, die aber auch für Vater und Großvater Morgenstern stehen kann.
Die Werke des Großvaters sind noch heute in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zu finden. Für die nach eigenen Angaben »weltweit erste und bisher einzige Dauerausstellung zu Leben und Werk des Dichters« dagegen muss man nach Werder an der Havel fahren, wo er die Galgenlieder schrieb. Bei der Deutschen Post sind Morgenstern und München dagegen vereint: Auf dem Gedenkbriefumschlag zum 150. Geburtstag prangt eine Briefmarke – vom Viktualienmarkt.

Martina Scheffler, Abendzeitung München, 6.5.2021