Jenseits der Landschaft
Jeden Tag ging er am Ufer des Soligo spazieren. Er bahnte sich einen Weg durch den Verkehr, an Möbelfabriken, Siedlungshäusern und Villen vorbei, liess den letzten Bauernhof samt seinen Gänsen und Hühnern hinter sich, bis er auf den Fussgängerweg am Fluss kam und mit langsamen Bewegungen in die Natur eintauchte. Auf diesen Spaziergängen stiess Andrea Zanzotto auf das, was ihn sein Leben lang gestärkt hat: Überreste der Landschaft. In der Landschaft, den Bizarrerien der Natur, steckte für ihn der Kern des Poetischen. Genau könne man es nicht beschreiben, sagte er einmal, es sei eben »der Punkt X«.
Andrea Zanzotto, 1921 in Pieve di Soligo (Veneto) geboren, hat seinen Heimatort bis auf einen längeren Aufenthalt in der Schweiz und in Frankreich während der Nachkriegszeit kaum je verlassen. Er war Lehrer und mit der Dorfgemeinschaft tief verwoben: Kulturelle Anregungen bekam er aus Padua und Venedig, wo er Auden, Pound, Enzensberger und seine italienischen Kollegen traf. Im Übrigen reichten ihm seine Familie und die ortsansässigen Tagediebe, allen voran sein Freund Nino, ein vierschrötiger Bauer und positives Gegenbild zum eigenen zerquälten Ich, Protagonist einiger seiner schönsten Gedichte.
Als Sohn eines Malers, der ihn als Kind auf Streifzüge durch die Natur mitnahm, hatte Andrea Zanzotto in seinen ersten vier Lyrikbänden immer wieder Verschmelzungen mit der Landschaft phantasiert. Die Erinnerungen an die Kriegshandlungen während des Widerstandes waren allerdings schon seit seinem Debüt Dietro il paesaggio (1951) das Störgeräusch gewesen. Die Textur der in der Tradition der Hermetik stehenden Dichtung Zanzottos wurde 1968 endgültig durchlöchert: Mit der Sammlung Beltà, einem Meilenstein der italienischen Nachkriegslyrik, gelang ihm der Durchbruch. Die Heideggersche Formel »Die Sprache als Sprache zur Sprache bringen« passt zu den komplexen Textbewegungen des Bandes. Zanzotto, mit der Psychoanalyse durch lange Behandlungen vertraut, macht hier das vor-bewusste Sprechen zu einem Scharnier seiner Gedichte.
In Beltà operiert das lyrische Ich unter der Ägide Dantes, der gleich im Eingangsvers des Proömiums zitiert wird: Es geht um die Suche nach dem Wahrhaftigen. Wie beim assoziativen Sprechen in der psychoanalytischen Redekur ist das Zentrum fortwährend spürbar – es wird umkreist und ex negativo heraufbeschworen. Zanzotto formt eine Art Sprachmagma aus Anspielungen auf die illustre Lyriktradition von Dante über Tasso bis zu Leopardi und Pascoli, Zitaten eigener Texte, Werbeslogans, Produktnamen, Schlagern und Filmen. Fussnoten, in denen der Autor zu seinem eigenen Exegeten wird, verdichten das Enigma und wirken wie eine Stimme aus dem Off. Die Landschaft ist nunmehr infiziert von den Folgen der Zivilisation. Das Schöne – beltà ist der alte Begriff für das modernere Wort bellezza – überlebt höchstens in Form einer verkapselten Zyste.
Durch englische Ausdrücke, comichafte Interjektionen, stotternde Wiederholungen, Alliterationen, Reihungen von verwandten Vokabeln, falsche Etymologien, isolierte Präfixe und Suffixe tritt der Wortkörper in seiner materiellen Beschaffenheit in den Vordergrund. Wie in einem architektonischen Bauwerk, das im Verlauf mehrerer Jahrhunderte entstand, überlagern sich in jedem Gedicht mehrere Schichten, jeder Vers birgt eine ungeheure Dichte an Anspielungen, Bezügen auf frühere Texte und theoretische Hintergründe.
In der Mitte des Bandes findet sich die »Elegia in petèl«, eine Elegie in der Ammensprache, wie sie in Venetien Mütter mit ihren Kindern sprechen. Die Nachahmung der frühkindlichen Laute bietet so etwas wie eine Schutzzone, in der die Sprache noch unberührt von konventionalisierten Bedeutungen ist. Der flüssige, milchartige Charakter dieses Lallens schlägt sich lautlich in dem Gedicht nieder. Die Regression, auch für Zanzottos Patron Hölderlin-Scardanelli die einzige Zufluchtsstätte, kann aber von traumatischen Erfahrungen nicht befreien. Die Alltagssprache und die Sprache der klassischen Dichtung bleiben trotz den Verstümmelungen durch die Geschichte der (oft negative) Referenzhorizont.
Nach seiner dantesken Wanderung durch die allmählich schwindende venetische Landschaft erreichte Zanzotto mit seiner Pseudotrilogie Il Galateo in Bosco (1978), Fosfeni (1983) und Idioma (1986) einen zweiten Höhepunkt, und seit diesen Jahren galt er als einer der wichtigsten italienischen Dichter. Wie auf einem Blatt Papier sind in dem Waldgebiet des Montello unweit von Pieve, wo die Petrarkisten ihre Sonettzyklen schrieben, das erste Benimmbuch unserer Kulturgeschichte entstand und die Kämpfe gegen Österreich-Ungarn gefochten wurden, die Zeichen der Vergangenheit festgehalten.
Der Prozess des biologischen Verfalls dehnt sich auch auf die literarische Tradition aus – dennoch gebiert sie ein neues, »geklontes« Sprechen. In Fosfeni führt der Weg in die unberührte Schneelandschaft der Berge und die Abstraktion hinein. Mit Fachvokabeln, die noch nicht von der Vergangenheit durchdrungen sind, richtet sich das lyrische Ich an ein ungreifbares Objekt. Der Logos – das Wahre, Absolute – wird hier zum loghion, zum Sprichwort, und tanzt als Glühwürmchen oder Glanz gen Horizont. Die dritte Station ist das Dorf. Die Gedichte von Idioma sind in Pieve di Soligo angesiedelt und von Verwandten und Bekannten bevölkert. Ein Teil der Texte ist im ursprünglichsten aller Idiome verfasst: in Zanzottos Dialekt.
Dieser Band ist zugleich der Auftakt zum Spätwerk. Die Sammlungen Meteo (1996) und Sovraimpressioni (2001) changieren zwischen der neu errungenen Klarheit und der kaleidoskopischen Dichte der achtziger Jahre. Es geht um die verwildernde Fauna des Landstrichs, alte Motive werden variiert. Manchmal blitzt ein abgründiger Witz über die Tragikomödie des Alterns auf. Sein Leben lang kämpfte Zanzotto um das Sprechen und Gehörtwerden: »Una riga tremante Hölderlin fammi scrivere«, »eine zitternde Zeile Hölderlin lass mich schreiben«. Nun wird kein Vers mehr folgen. Am 18. Oktober ist der Dichter wenige Tage nach seinem 90. Geburtstag in Treviso gestorben.
Maike Albath, Neue Zürcher Zeitung, 19.10.2011
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