Das Leben führt den Menschen immer an den Rand des Lebens

Das Leben führt den Menschen immer an den Rand des Lebens

– Mit Ales Rasanau verliert die weissrussische Literatur ihre stärkste poetische Stimme. Rasanau war ein Stiller im Lande, der seine Projekte mit Energie verfolgte. Doch war er keineswegs apolitisch. Er eckte an, auch mit seiner Leidenschaft für die weissrussische Sprache. –

Es ist ein schwarzer Tag für die weissrussische Literatur: Am 26. August verlor sie ihren bedeutendsten Dichter, Ales Rasanau. Er galt als stille Eminenz, machte kein Aufhebens um seine Person, aber schrieb beharrlich an seinem Werk, das Poeme, gleichnishafte Prosaminiaturen (»Versette«), haikuartige »Punktierungen« und sogenannte »Gnomische Zeichen«, aphoristische Reflexionen über Kunst, Natur und Metaphysik, umfasst.

1947 auf dem Lande in der Nähe von Brest geboren, verleugnete Rasanau nie seine Nähe zu volkstümlichen Legenden und Epen, zugleich holte er sich Anregungen von der indischen Philosophie, von Heraklit, der Bibel und apokryphen (okkulten) Texten. Seine Suche galt stets »Universalien«, die er aus der Natur, der Geschichte und der Traumwelt herauszufiltern suchte, um zu einer »Essenz« vorzustossen, die auf elementare Weise einleuchtet. Reduktion war dabei sein stilistisches Mittel, eine kunstvoll einfache Sprache, die den Anschein erweckt, »der Funke springe von alleine«.

Meisterhaft gelang ihm dies in seinen »Punktierungen«, wo er alltägliche Beobachtungen zur Evidenz brachte. Etwa so:

Regen:
Der See
unter Akupunktur.

Oder:

Die Sonne geht unter:
Mit zwei Augen
schau ich ins dritte.

Viele seiner Kurzgedichte schrieb er auf Deutsch, das ihm durch Stipendienaufenthalte in Deutschland, Österreich und der Schweiz ans Herz wuchs und das er bis in die Tiefe der »Wortdichte« erforschte:

Der Sturm –
abgeflaut:
Die Stille wird laut.

Man kann Rasanau Weisheit attestieren, in Wort und Tat. Was er schrieb, galt ihm auch als Losung fürs Leben.

Einen Schritt vor dem Erfolg
halte ich an,
einen Moment vor dem Sieg
fange ich an zu grübeln…
Die Freunde seufzen und gehen fort,
das Leben lächelt und hält an neben mir.

Erfolg und Saturiertheit interessierten ihn nicht, es ging um Lebendigkeit als Prozess, mit überraschenden, unbekannten Perspektiven. Er lernte neue Sprachen, betrieb Ortsnamenforschung, übersetzte aus dem Litauischen und Slowenischen.

Für seine Muttersprache Weissrussisch machte er sich schon zu Zeiten stark, als dies als politisch inopportun galt, und wurde von der Universität relegiert. Regimekritische Äusserungen trugen ihm nach Lukaschenkos Machtübernahme, 1994, zeitweiliges Publikationsverbot ein. Doch Rasanau liess sich nie beirren und einschüchtern. Zur Politik hatte er ein distanziertes Verhältnis und betrachtete gleichsam von höherer Warte aus, »wie zerstört werden die Städte, / untergehen die Staaten«, wie »die Stätten der Bodenschätze sich leeren, / die Flüsse versuchen zurückzufliessen«.

Doch die friedlichen Proteste, die sein Land im August 2020 erfassten, erfüllten auch ihn mit Hoffnung. Wobei er schon im September in einer Mail fast prophetisch festhielt:

Eine Welle hat von innen das Land erfasst und vereint, eine Welle des Protests und zugleich des Strebens nach Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit. Das war ein Fest, erhebend für die Seele. Jetzt aber tritt die Politik auf den Plan – mit ihren Figuren, Szenarien, Kalkülen, Ambitionen, Spekulationen und Provokationen, das Fest verlagert sich nach innen – um dort zu bleiben.

Ales Rasanau war kein Aktivist, doch hat er mit seinem konsequenten, ebenso starken wie sensiblen poetischen Werk jüngeren Kollegen den Weg gewiesen. Sie werden ihn sehr vermissen, und vermissen werden ihn all jene, die ihn gekannt und gelesen haben, ob im Original oder in Übersetzung. Der Moment wäre gekommen, seine Bücher auch bei uns wieder aufzulegen. Denn Rasanau hat die weissrussische Poesie in den Rang von Weltpoesie erhoben. Nun ist er am 26. August in Minsk gestorben.

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 26.8.2021