Fantasie in einer enger werdenden Welt

Fantasie in einer enger werdenden Welt

– Zusammen mit Günter Grass, Wolfdietrich Schnurre und Kurt Mühlenhaupt gründete sie eine berühmte Künstlervereinigung. Nun ist Aldona Gustas mit 90 gestorben. –

Ein paar Zeilen genügten ihr, um die Spanne ihres Lebens zu skizzieren. »ich war lange 1932«, schreibt Aldona Gustas in einem Gedicht, »ich war lange 1945 / ich war lange 1952 / ich war lange 1962 / ich war lange 1972 / in den Jahren dazwischen / lebte ich kurz«.

Lebensdaten, die in ihrer reduktionistischen Form vom Reichtum einer Jahrhundertbiografie zeugen. Die deutsch-litauische Dichterin und Malerin Aldona Gustas wurde 1932 im litauischen Landkreis Silute geboren, eine Kindheitslandschaft, die von den nachwinterlichen Überschwemmungen der Memel geprägt ist. Die Mutter Deutsche, der Vater Litauer, fand die Familie nach Kriegsbeginn 1939 vorübergehend in Vilnius eine neue Heimstatt. Die Jahreszahl 1945 steht vielmehr als fürs Kriegsende für das Verschwinden des Vaters in einem russischen Gulag, aus dem er nicht zurückkehrte. Die Mutter floh mit der zwölfjährigen Aldona und deren einjährigem Bruder nach Rostock, in ein anderes Land, aber in Mutters Sprache.

Das Jahr 1952 steht für die Begegnung mit dem Glück ihres Lebens, dem Schriftsteller und Journalisten Georg Holmsten, der nach dem Attentat auf Hitler einer der wenigen daran Beteiligten war, die der Hinrichtung im Berliner Bendlerblock entkommen konnten. Noch im hohen Alter sprach Aldona Gustas in großer Dankbarkeit von ihrem Mann. Er, sagte sie oft, habe sie nicht zur Dichterin gemacht, aber werden lassen. In einer Ehe wechselseitiger Inspiration und Anerkennung war ihr erster Gedichtband 1962 eine Art künstlerische Geburt, zu der später ein malerisches Werk hinzukam. 1972 gehörte Aldona Gustas zu den Gründungsmitgliedern der Berliner Malerpoeten, als einzige Frau unter den männlichen Alphatieren Günter Grass, Wolfdietrich Schnurre, Günter Bruno Fuchs und Kurt Mühlenhaupt. Wer Fotos aus dieser Zeit betrachtet, glaubt umgehend, dass Gustas die energetische Kraftquelle dieser Gruppe war, die mit Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen von sich reden machte und die Verbindung zwischen Lyrik und Grafik betonte.

Nach langer Krankheit starb Georg Holmsten 2010, die Pflege hatte sie viel Kraft gekostet, aber 2014 war Aldona Gustas sofort Feuer und Flamme, in einer Ausstellung noch einmal an das Schaffen der Malerpoeten zu erinnern. Drei Jahre später stellt sie, abermals im Rahmen einer Ausstellung, ihr letztes Buch Zeit zeitigt auf der Leipziger Buchmesse vor. Kurz danach zieht sie aus ihrer Kreuzberger Wohnung in ein nahe gelegenes Pflegewohnheim um, fest entschlossen, das Schwinden der Kräfte nicht als Leiden zu akzeptieren.

Zwischen 2018 und 2020 bin ich ihr oft begegnet, in der Pflegeeinrichtung war sie die Wohnungsnachbarin meiner Mutter. Einmal stieß ich dort hinzu, als Aldona Gustas meine Mutter bei der Hand nahm und ihr die auf dem Flur hängenden Fotografien erklärte. Besonders hatte es ihr der Kreuzberger Wasserturm angetan, die Bauweise, die Farben. Meine Mutter hörte andächtig-bewundernd zu – und weiter zum nächsten Bild. So erlebte auch sie in einer enger werdenden Welt noch einmal die endlose Weite der Fantasie. »Als ich mit Birken und Bernsteinen befreundet war«, heißt es in einem frühen Gedicht der Gustas, »begegnete ich in Silute bereits täglich etwas Ewigem«. Am 8. Dezember ist Aldona Gustas im Alter von 90 Jahren in Kreuzberg gestorben.

Harry Nutt, Berliner Zeitung, 14.12.2022