Die verstümmelte Welt besingen

Die verstümmelte Welt besingen

– Ein Dichter der skeptischen Reflexion: Adam Zagajewski, Weltbürger und Polens bedeutendster Gegenwartslyriker, ist gestorben. Ein Nachruf. –

Als sich der große Dichter und Essayist Adam Zagajewski vor ein paar Jahren in der Darmstädter Akademie vorstellte, trug er sein Gedicht »Selbstbildnis« vor, eine Ich-Inventur aus den frühen Neunzigerjahren. »In der Musik«, heißt es da, »finde ich Kraft, Schwäche und Schmerz, die drei Elemente. / Das vierte hat keinen Namen. / Ich lese Dichter, die lebenden und die toten, lerne von ihnen / die Ausdauer, den Glauben und den Stolz.« Damit waren die Überlebensstrategien eines Emigranten benannt – seine Ankerpunkte in der Poesie und der Musik, die den humanistisch gebildeten Weltbürger den Schmerz des Exildaseins zu überstehen halfen.

Zagajewski hatte 1979 Polen den Rücken gekehrt und war über Westberlin ins Exil nach Paris gegangen, nachdem er in seinem Heimatland seine Bücher nicht mehr veröffentlichen konnte. Den Schock der Entwurzelung hatte der 1945 in Lemberg geborene Poet früh erlebt. Seine Geburtsstadt Lwów (Lemberg) wurde zu Lwiw und fiel an die Ukraine, er siedelte mit den Eltern nach Gliwice (ehemals Gleiwitz) um, 1963 kam er nach Krakau. In Krakau gehörte Zagajewski zu den mitteleuropäischen Intellektuellen der ersten Stunde, die nach 1968 gegen den dogmatischen Staatskommunismus aufbegehrten und sich keine Begrenzungen des Denkens auferlegen ließen. Er war ein Weggefährte jener Dichtergeneration der Neuen Welle, die sich mit politischen Gedichten exponierte. Dabei kam er früh in Kontakt mit Bürgerrechtlern und Dissidenten. Seine Hausheiligen waren von Beginn an renitente Weltpoeten wie der spätere Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, der »metaphysische Rowdy«, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband.

Sein exzellentes Deutsch brachte er sich durch die intensive Lektüre von Günter Grass Die Blechtrommel bei, wie er 1999 in der FAZ in seiner »Lobrede auf einen strengen Deutschlehrer« verriet. Lehraufträge in den USA, regelmäßige Treffen mit Dichterfreunden und lange Spaziergänge durch die Straßen der französischen Metropole waren weitere bewährte Strategien gegen die Schwermut. »Mein Land hat sich von einem Übel befreit«, heißt es weiter im Gedicht »Selbstbildnis«, »ich wollte, dem würde noch eine Befreiung folgen.« Es dauerte dann aber noch über ein Jahrzehnt, bis er nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 2002 mit seiner Frau nach Krakau zurückkehrte.

Zagajewski war ein Dichter der bedächtigen skeptischen Reflexion, mit einer emphatischen Hinwendung zum Kosmos des Alltäglichen, wobei er Pathos und Ironie auszubalancieren verstand. Der Dichter, der »ein Zeitgenosse der Griechen« sein wollte, liebte den Blick auf die Augenblicke des Alltags, wenn »die Katzen in Ruhe vor den Häusern sitzen wie chinesische Philosophen«. Ein Berlin-Gedicht fixiert zum Beispiel – »im Gartencafé auf der Museumsinsel« – den Moment »süßer Ratlosigkeit«, das Ingrediens der Vita contemplativa. Und wenn der Dichter von der Verteidigung der Poesie sprach, betonte er deren Fähigkeit, »das Wunderbare der Welt zu entdecken, das Göttliche im Kosmos und im anderen Menschen, in der Eidechse und in den Kastanienblättern«. In Deutschland wurden seine Gedichte erstmals 1984 im Oberbaum Verlag in der Übersetzung von Karl Dedecius veröffentlicht, seine verlegerische Heimat fand er dann ab 1989 bei Hanser, wo nun posthum im April auch seine Essaysammlung Poesie für Anfänger erscheinen wird.

Weltweite Bekanntheit erlangte er, als er im September 2001 nach dem Einsturz der Twin Towers in New York eine lyrische Antwort auf diesen Epochenaugenblick verfasste: »Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen. / Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen. / Du solltest die verstümmelte Welt besingen.«

In einem seiner letzten Aufsätze, veröffentlicht im aktuellen Januarheft von Sinn und Form, umkreiste Zagajewski noch einmal seine Zentralmotive – in Form eines Rückblicks auf seine Begegnungen mit verstorbenen Freunden wie Brodsky und Derek Walcott. Hier markiert er die »Augenblicke reiner Freundschaft» als sein poetisches Lebenselixier. Wie Brodsky bekennt er sich hier auch als »Verteidiger des metaphysischen Impulses«. Bereits sein frühes Werk Mystik für Anfänger (1997) demonstrierte seine Passion für das Religiöse.

In seinem Essay »Verteidigung der Leidenschaft« (2008) ist sein ästhetisches Credo formuliert: Eine Kultur, die den Sinn für das »Sacrum«, das Heilige verliere, heißt es darin, habe ihr Fundament schon preisgegeben. In seinem Erinnerungsbuch Ich schwebe über Krakau (2000) beschreibt er, wie ihm das genaue Betrachten von Kirchenfenstern in Krakau, Paris und anderswo die Augen geöffnet hat für Phänomene der Kunst. Die Begegnung mit diesen Kirchenfenstern wurde zur prägenden ästhetischen Erfahrung. Seine katholischen Neigungen haben dem Weltpoeten, der seit Jahren auf der Liste der Anwärter für den Literaturnobelpreis stand, nicht nur Bewunderung eingetragen. »Die Geschichte, die meistens bitteren Geschmack hat, ist wieder da«, so beschloss Zagajewski seine Vorstellungsrede bei der Darmstädter Akademie: »Und noch eines: Ich bin nicht mehr so sicher, dass mein Leben wirklich mir gehört.« Eine zutiefst pessimistische Bilanz.

Am gestrigen Sonntagabend ist Adam Zagajewski, der skeptische Europäer und bedeutendste Dichter Polens, im Alter von 75 Jahren in Krakau gestorben.

Michael Braun, Die Zeit, 22.3.2021