
Leben’n’Werk, eine Verlustanzeige
Auch ich werde sterben, und meine Werke werden verschwinden; es hat sich gelohnt, sie zu schaffen, aber es ist überflüssig, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Sie leben ihr eigenartiges Leben, wie und solange sie es können.
Imre Kertész
A.J. Weigoni gab der Lyrik das Sprechen zurück, ihre Entschiedenheit und Schärfe, ihren Charme und Witz. Er war kein dichtender Denker, sondern ein nachdenklicher Dichter. Ihn hat nicht die Philosophie interessiert, wohl aber die spartenübergreifende Zusammenarbeit mit Künstlern wie Tom Täger, Peter Meilchen und Haimo Hieronymus fasziniert. Diese Artisten arbeiteten mehrperspektivisch und interdisziplinär, sie betrieben mit der Literatur, assistiert von den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Wie man einem Kollegengespräch entnehmen kann, hat eine frühe Erfahrung den Lyriker Weigoni – im wahrsten Sinne des Wortes – geprägt, sein erstes taugliches Gedicht hat er mit beweglichen Lettern in einer Druckerei selbst gesetzt und gedruckt. Er kam später darauf zurück. Bei der künstlerischen Gestaltung des Lyrik-Schubers waren Gebrauchsspuren geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover haptisch nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken, die Aura des Handgemachten paßt zum Genre der Lyrik wie ein Handschuh.
Die Zeit wird erlebt wie etwas, das man ausscheidet.
Michel Butor
Die Herkunft bestimmt nicht unweigerlich die Zukunft. Weigoni kam nicht nur aus einfachen Verhältnissen, er verfügte über die Gnade der Geburt, ein waschechtes Proletarierkind zu sein. Seine Seele hat diese Herkunftsscham nie ganz überwunden und er litt bis zum Ende daran. »Der Habitus präzisiert die Herkunft«, schrieb Pierre Bourdieu. Schreiben war für diesen Romancier eine Haltung zur Welt. Das Überschreitungsmoment trieb ihn an, er wurde hinausgetrieben über die Grenzen seines Ichs in Regionen, die ihm unbekannt waren und in denen er sich transzendieren konnte. Schreiben hatte für ihn mit einem Erkenntnisvorgang zu tun, mit einem Versuch, Welt zu versprachlichen, die ihm davor stumm und rätselhaft war. In seinem Werk verdichten sich Erfahrungen, die auf Umbrüche der Zeit zwischen dem Untergang der alten BRD und den Beginn der Globalisierung verweisen: der Zerfall ökonomischer Sicherheiten, die Erosion der Familie, die schroffe Entwertung tradierter Geschlechterrollen. Die Sprache spielt für ihn eine große Rolle dabei, Herrschaftsverhältnisse zu entlarven. Er hat von sich selbst nie viel Aufhebens gemacht, kaum gibt es einen Lyriker, der so selten Ich sagt. Es war eine frei gewählte Aussenseiterposition, Weigoni war ein Geheimtipp und erfolglos im Sinne von nicht populär.
Die Fiktion ist an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht.
Emmanuel Carrère
Eine Künstlerbiographie ist selten eine gelungene Geschichte. Hier wird ein Schriftstellerleben gewürdigt, das in schönster Eigensinnigkeit und jenseits literarischer Moden voran geschritten ist. KUNO erinnert an eine künstlerische Autonomwerdung, die aus einer Kultur des Überlebens schöpfen mußte. Nach einen Autounfall durch eine Nahtoderfahrung in den 1970-er Jahren auch durch äußerliche Narben geprägt, thematisierte Weigoni seine eigene Begrenztheit, sein Zusammentreffen mit der eigenen Vergänglichkeit, mit seinem Tod. Pointiert ließe sich formulieren, daß Weigoni mit allen seinen Büchern und Hörbüchern an einem einzigen großen Text schrieb. Seit 1975 erkundete er als Archäologe des modernen Bewußtseins in Gedichten, Hörspielen, Erzählungen und Romanen die psychischen Deformationen der Unterprivilegierten und zeigte die Hilflosigkeit randständiger Figuren vor der Wirklichkeit. Seine Gedichte, Hörspiele und Prosa standen quer zum herrschenden Literatur-Betrieb und zu überkommenen Sichtweisen. So konstituiert sich aus dem Mosaik seiner Texte eine Gegengeschichte des Rheinlands, eine literarische Geschichtsschreibung von unten. Die Literaturbürokraten haben lange nicht wahrhaben wollen, daß dieser Schriftsteller mit seiner Art, die Sprache aufs Genaueste zu vermessen, nicht nur ein kritischer Begleiter der Moderne, sondern auch ein Sprachakrobat sonder Gleichen war. Weigoni gehörte zu den Menschen, die sich gefunden und in ihrem Anderssein akzeptiert haben und daraus schöpfen konnten. Dieser Homme des lettres bezeichnete sich selbstironisch gern als ein spätes „Resultat der Massenalphabetisierung“.
Als könnte man die Zeit totschlagen, ohne die Ewigkeit zu verletzen.
Henry David Thoreau
In jeder Biographie gibt es Brüche. Im Oktober 2007 setzten Dachdecker bei Schweißarbeiten den Dachstuhl über seiner Wohnung in Brand. Das Feuer griff auf seine Wohnung über. Was die Flammen nicht vernichteten, wurde von den C-Strahl-Rohren der Feuerwehr unbrauchbar gemacht. Auf einen Schlag waren seine Bibliothek mitsamt Recherchematerial vernichtet. Er hat versucht seine eigenen Erlebnisse literarisch zu verarbeiten, diese Versuche sind gescheitert. Schreiben bedeutet Entbehrungen, für eine Weile glänzte Weigoni mit geschäftsschädigender Zurückhaltung. Er mußte lernen, bei Null anzufangen, nicht von eigener Erfahrung oder einer Recherche auszugehen, sondern buchstäblich mit nichts zu beginnen und zu begreifen, daß das Schreiben für ihn ein Akt des Zuhörens ist. Zuhören erfordert enorme Konzentration und sie fordert das, was Meister Eckhart als Abgeschiedenheit bezeichnet hat.
Leben heisst – dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich.
Dichten – Gerichtstag halten
Über sein eignes Ich.
Henrik Ibsen
(…)
Sein Leben, sein Tod, sein Werk setzten sich aus Zweifel an der Sprache zusammen. Er lebte und arbeitete von diesem Zweifel ausgehend. Und es fügt sich, daß er aus diesem Zweifel ein Werk geschnitzt hat. Sein Ehrgeiz richtete sich immer auf das Ganze. Im Zusammenspiel der einzelnen Medien zeigt sich Weigoni nicht nur als Neuschöpfer, sondern auch als grandioser Mediendiagnostiker, denn stets geraten seine Figuren durch die neuen Medien – die ihnen eigentlich bei der Verständigung helfen sollen – in Situationen, in denen sie Opfer der Tücken des jeweiligen Kommunikationsmediums werden. Weigoni hat sich in seiner Prosa damit beschäftigt, welch ungeheure Macht die Bilder auf das neuzeitliche Bewußtsein haben, und in den filigranen Netzen seiner Prosa, die oft zwischen hyperpräzisen Beschreibungen und philosophisch angehauchten Erklärungsansätzen ins Flirren kommt, die Wirkungen medial bestimmter Imagination aufzugreifen versucht. In einem Markt, der längst nicht mehr funktioniert, wie er einst funktionierte, durfte dieser Paradievogel freier fliegen als je zuvor. Weigoni sah Literatur als Utopie, als eine Möglichkeit das Unsagbare in Schrift zu fassen, Schreiben war für ihn eine Sinngebung des Sinnlosen. Er hat nie für eine Ideologie, für ein politisches Programm plädiert, die Erziehbarkeit des Menschen hielt er mit der Erfahrung seiner fremdbestimmten Arbeit als Pädagoge für eine Illusion, er hat niemanden belehren wollen, wie man das Leben bestehen soll. Aber er hat seine Ratlosigkeit virtuos artikuliert. Der Literaturpädagoge zeigt sich als poeta rhetoricus, der verstanden werden will und mit dem, was er schreibt, eine konkrete Wirkungsabsicht verbindet.
Weiterleben ist nicht nur retrospektiv angelegt, sondern immer auch um Hinterlassenschaft bemüht.
Christian Poetini
Er ist der große Unbekannte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. A.J. Weigoni war ein homo poeticus, mit Blick auf das Zeitgeschehen schrieb er Lyrik, Prosa und bestätigte sich im klangakustischen Bereich. Seine Grundlage war eine ästhetische Langzeitperspektive, damit befand er sich am kunstautonomen Pol des literarischen Feldes. Falls Freiheit wirklich heißt „eine Sache beginnen“, dann handelte es sich bei ihm um einen ziemlich freien Menschen. Weigoni sah in der Poesie die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit des Lebens zu ertragen oder gar zu überwinden. Er hielt sie nicht nur für ein unvergleichliches Instrument der Erkenntnis, weil sie uns den fragwürdigen Charakter des Begriffs Wahrheit enthüllt, sondern auch für die größte Stimulans zum Leben. Durch Kunst allein könne der Mensch beweisen, daß er Mensch sei. Mit seiner lyrischen Sprachgestaltung hat er die Präferenz für einen gegenwartsbezogenen Realismus unterlaufen. Seine Identität war die des Schreibens, als »vielseitig gescheiterte Persönlichkeit« regelte er daher seinen Vorlass selbst. Was für ihn zählte, war das Werk, in dem der Schaffensprozess zum Abschluß gekommen ist. Sein Ableben setzt einen Schlußstein.
A.J. Weigoni ist tot, seine Bücher aber leben, sie sind der Trost, der den Lesern niemand mehr nehmen kann.
KUNO, 26.1.2021