Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(XIX)

Das folgende Jahr

1892

ist für den Knaben von besonderer Bedeutung. Er gewinnt einen seiner intimsten und treuesten Freunde der Art, von der Blaise Cendrars sagt:

Ich habe Freunde, die mich umgeben wie eine Balustrade.

Und solch ein Freund war in Apollinaires Leben René Dupuy, bekannter unter seinem literarischen Pseudonym René Dalize.

Über ihr Freundschaftsverhältnis schreibt Hubert Fabureau:

In dem monegassischen Internat schlossen René Dupuy und Wilhelm Kostrowitzki Freundschaft. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß der erwachende Geist allein oder kindliche Spiele sie in gemeinsamer Verachtung des Schullebens verband. Sie taten sich besonders in kleinen Plänkeleien hervor, die die Zöglinge des Internates, in zwei Lager geteilt, auf dem Spielplatz ausfochten.

Die beiden Freunde pflogen insgeheim auch Unterhaltungen, die die Schulordnung verbot.

In Monaco, in der sechsten Klasse, hatte jeder einen Haufen in Aquarellfarben auf Visitenkarten gemalter Soldaten, der untere Rand der Karte war nach rückwärts abgeknickt, so daß die Papiersoldaten stehen konnten. Kostrowitzki befehligte die römische Armee; in ihr figurierten als reizender Anachronismus eine Art Mounet-Sullys in der Rolle des Oedipus, Dupuy war Befehlshaber der Meder, unter denen sich auf einem mächtigen Fischschwanz der Fischgott Oannès erhob. Gemalt waren die Armeen von Schülern der dritten Klasse, ausgesprochenen Faulpelzen, aber nichtsdestoweniger jungen, begabten Künstlern.

Dupuy und Kostrowitzki verbrachten glückliche Unterrichtsstunden im Spiel mit ihren Papiersoldaten. Jeder der beiden Heerführer hatte ein Stückchen Gummi an Daumen und Zeigefinger der linken Hand gebunden. In der rechten Hand hielt er ein kleines, zusammengefaltetes Stückchen Papier an den Gummi, das er als Projektil losließ, um die feindlichen Regimenter zu vernichten.

»Das Spiel«, sagt Apollinaire, „endete oft mit der Konfiskation der ganzen Armee mitsamt der Artillerie. Der Professor, der sehr kurzsichtig war, bemerkte unseren schülerhaften Schwindel nie, solange ihn nicht ein Projektil traf oder auf seinen Tisch fiel.“

Obwohl beide Schüler an den traditionellen Spielen teilnehmen, unterscheiden sie sich von ihren Mitschülern durch außergewöhnlichen Ernst. Sie haben Anwandlungen religiöser Ekstase. Die Erinnerung daran ist in dem ersten Gedicht der Alcools festgehalten:

Du bist sehr fromm die Liebe kirchlichen Pompes eint
Dich mit René Dalize deinem ersten Freund
Neun Uhr im Schlafsaal das Gas ein klein blaues Flämmchen nur
Ihr schleicht euch hinaus ganz sacht
Um in der Kapelle des Internats zu beten die ganze Nacht
Dieweil ewig hehre Tiefe von Amethyst
Für immer des Heilands flammende Glorie umfließt.

Diese freudig empfangene katholische Glaubenslehre hinterläßt in Apollinaire unverlöschliche Spuren. Niemals im Laufe des Kaleidoskops seiner verschiedenartigen Tätigkeit vergißt der Dichter seine Kinderfrömmigkeit.

Auch Paul Dermée befaßt sich mit dieser Frage:

Apollinaire erzählte uns, er sei aus dem Schlafsaal entschlüpft, um die ganze Nacht in der Kapelle verzückt vor den Heiligenbildern zu verbringen.

Es war nicht christliches Fühlen, das ihm in jenem Augenblick die Ruhe raubte, es war rein lyrische Gemütsbewegung, die die Heiligenlegenden in allen empfindsamen Seelen hervorrufen.

Und eine empfindsame Seele ist Apollinaire zweifellos. In jenen Jahren erhöhter Gefühlsbetontheit der Vorpubertät verbinden sich Überbleibsel von Erlebnissen aus der Kinderzeit im Vatikan mit der systematischen und planmäßigen religiösen Erziehung durch die Priester, die in dem monegassischen Institut unterrichten.

 

Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966