Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(VIII)
Die Person des Vaters fehlt auch weiterhin sowohl in dieser Rechtsakte als auch im Geburtenregister auf dem Kapitol, wo
am 3. Oktober 1880
diese Anerkennung der Mutterschaft eingetragen wird.
Und hier beginnen die Legenden, die Rätsel, die Meinungen, Fragen und Hypothesen. Wenn, laut Roche Grey, Frau Kostrowitzki der Nachwelt das unlösbare Rätsel ihrer eigenen Herkunft hinterließ, »… hier ist ein weiteres Rätsel: Das Rätsel des Vaters.«
Anatol Stern charakterisiert Apollinaires Mutter »wie allgemein aus den Aussagen von Apollinaires Freunden bekannt und nach allem, was man von ihr weiß«, als »Frau, die das Leben mit einer reichlichen Dosis Leichtsinn auffaßte« und als »mythoman, wie es bei Frauen so übersprudelnden Temperamentes häufig der Fall ist«, was auch Roche Grey bestätigt:
Eine Katholikin, die sich zur russischen Nationalität bekannte, aber ihre Muttersprache hart und mit fremdem Akzent sprach. Ihr bis ins Äußerste durchziseliertes Gesicht war internationalen Charakters und vereinigte in sich alle weibliche Schönheit.
Vielleicht war sie selbst die Urheberin des Gerüchtes, Wilhelms Vater sei ein hoher kirchlicher Würdenträger, und Apollinaire »tat nichts weder zur Bestätigung noch zur Ablehnung dieses Gerüchtes… Es ist nicht gerade zuträglich für einen Dichter, wenn sein Leben mit einer geheimnisvollen Geburt beginnt, die nach Weihrauch riecht und in Purpur gehüllt ist, denn es wurde gemunkelt, daß er der Sprößling eines Kardinals sei…« schreibt M. Adéma (28.10.1960, Figaro littéraire).
Marcel Adéma konstatiert überdies ausdrücklich, daß Apollinaire selbst kein Mystifikator im üblen Sinne des Wortes war und daß alle seine Absonderlichkeiten dem ihm eigentümlichen Humor entsprangen.
Nie mystifizierte er in persönlichen Dingen. Wahrscheinlich nahm er das Gerücht von seinem angeblichen Vater nicht ohne Zweifel auf. Dafür spricht eine Geschichte, die Pascal Pia in »Apollinaire par lui-même« (Apollinaire über sich selbst) aufzeichnet. Danach hätte Apollinaire in der Wohnung der Mutter seines Freundes René Nicosia die Fotografie eines italienischen Offiziers gesehen und erklärt, dies sei sein Vater. Er kannte auch den Namen d’Aspermont. Umso erstaunlicher ist es, daß er ihn nie erwähnte. Woher kannte er ihn, wenn nicht von seiner Mutter? War er der Vaterschaft nicht ganz sicher? Bisher hat man kein Dokument gefunden, das d’Aspermonts Vaterschaft bewiese, und »alle Dokumente betreffs d’Aspermonts angeblicher Vaterschaft beruhen auf vertraulichen Mitteilungen, laut denen es ein italienischer Aristokrat gewesen sei«. Eine Zeitlang wurde auch gemunkelt, sein Vater sei ein Prinz königlichen Geblütes, dann wieder ein Prinz von Monaco. Unter seinen engsten Freunden wurde sogar von Inzest gesprochen.
Das Problem wird noch komplizierter durch einen Bericht von Florent Fels, der in der »Art vivant« (Lebendige Kunst) B. I., S. 228–229 schreibt:
Apollinaire war der Sohn einer schönen Dame polnischer Herkunft, de Kostrowitzki, und des Abbés Accica, Pfarrers von Saint-Charles im Pfarrsprengel Monte Carlo. Der italienische, sehr liberale katholische Priester zählte die schöne Gläubige zu seinen Pfarrkindern… Diese schöne Dame brachte ihr Kind in Rom zur Welt, in einem speziellen, der heimlichen Niederkunft von Nonnen und frommen Sünderinnen geweihten Hause…
Fels behauptet:
Der Schleier des Geheimnisses, in den seine Geburt gehüllt ist, kann dank der Feststellungen Louis Cappattis, Apollinaires Mitschülers am Lyceum in Monaco und in Nizza, des späteren Archivars und Historikers dieser Städte, gelüftet werden.
Aber auch mit diesem Bericht ist das Problem nicht definitiv gelöst und abgeschlossen. Apollinaire rühmte sich sehr selten seiner adligen Herkunft mütterlicherseits. Nie erwähnte er seinen Großvater, den russischen Offizier und späteren päpstlichen Kämmerer. Der polnische Dichter und Schriftsteller Anatol Stern, der sich mit dem Studium des Einflusses Apollinaires auf die moderne polnische Dichtung befaßt, führt Zusammenhänge mit dem „Aiglon“ als Urgroßvater an, die ein bisher undurchdringliches Geheimnis bilden, ebenso wie die Persönlichkeit des Vaters, von dem er nie gesprochen haben soll. Wenn es wirklich Francesco Flugi d’Aspermont war, hätte Apollinaire aus seiner bewegten Kindheit vielleicht doch tief verschüttete Erinnerungen bewahrt. Manche Forscher allerdings behaupten, d’Aspermont hätte den kleinen Wilhelm nie erblickt, dessen Mutter fünf Jahre nach der Geburt des Kindes verlassen und sich mit der Rolle eines Freundes und gelegentlichen Liebhabers begnügt.
Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966