Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(XL)

August 1900.

Der Freundeskreis erweitert sich, insbesondere um Ferdinand Molina de Silva, der einer alten spanisch-jüdischen, seit der Zeit der Inquisition in Paris ansässigen Familie entstammt. Apollinaire wird in einem Bistro des Viertels Saint-Lazare mit ihm bekannt und besucht auch seine Familie. Ferdinands Vater ist Professor für gesellschaftliche Erziehung in der Schule Saint-Cyr und gibt, der Mode entsprechend, auch privat Tanzstunden in der rue Washington. Guillaume lernt Ferdinands sechzehnjährige Schwester Linda kennen. Das schöne, dunkelhaarige Mädchen macht starken Eindruck auf ihn, und bald ist er in sie verliebt. Die Liebe inspiriert seine Dichtung. Er schreibt Linda Verse in den verschiedensten Formen, vom Anagramm bis zum Rondeau, und Briefe im Tone scherzhafter Galanterie oder überschäumenden Gefühles.

»Aber diese Liebe« – schreibt A. Billy – »war nicht glücklich. Waren es übrigens seine anderen? Linda fühlte für den ›armen Kostro‹ nur Freundschaft und bedauerte ihn, wenn sie sah, wie unglücklich er war.«

In der Familie wird Guillaume warm aufgenommen. Er ist ein angenehmer, von Witz sprühender Gesellschafter. Er nimmt nun an einem Familienleben teil, wie er es bisher nicht gekannt hatte. Er steht besonders dem Vater seiner Liebe und seines Freundes nahe und bereitet ihm das Vorwort zu seinem Buche La Grâce et le Maintien français (Die französische Grazie und Haltung) für den Druck vor.

In diesem Hause wird er auch mit der Lebensweise einer jüdischen Familie bekannt, und vielleicht ist hier der Anfang seines schriftstellerischen Interesses für jüdische Sitten und Gebräuche und semitische Kultur überhaupt zu suchen. Beide tauchen später in seinem Werke immer wieder auf.

Die Gedichte an Linda bilden in der 1915 von Jean Royer herausgegebenen posthumen Ausgabe Il-y-a (Allerlei) ein zusammenhängendes Ganzes, beginnend mit den »Dicts d’amour à Linda« (Liebesweisen an Linda), die poetisch in drei Vierzeilern mit ihrem Vornamen tändeln – »der deine Schönheit spiegelt« – über ein Akrostichon und weitere anbetende Gedichte bis zu dem resignierenden »Adieux« mit der Bemerkung »hier enden die Liebeslieder Guillaume Apollinaires an Linda, die Lispelnde«. Diese auf Ansichtskarten geschriebenen Gedichte beginnen und beenden eine Liebe, die noch im Jahre 1901 lebendig war.

 

Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966