Überlebenskünstler Stephan Hermlin
O ja, unter den Dichtern, die der Besucher aus dem Westen in der Hauptstadt der DDR antreffen konnte, war Stephan Hermlin der weltläufigste und der mit den besten Manieren. Er durfte reisen, gehörte also zu den Privilegierten. Ich bin ihm nicht nur in Moskau und in Budapest begegnet, sondern auch auf irgendwelchen Podien, Festivals und überflüssigen Kongressen im westlichen Ausland. Unter seinen Kollegen trug er in der DDR den Spitznamen »Lord Feinfrost«.
Hermlin hat mich sogar einmal in der Friedrich-Engels-Straße empfangen, in einem komfortablen Haus, das in Niederschönhausen lag. Er war versiert, sprach fließend Französisch, trug gute Anzüge und besaß einen roten Sportwagen. Ich wußte, daß er gute politische und persönliche Beziehungen zu den Spitzen der SED unterhielt.
Sein Einfluß war so groß, daß er bei seinem Duzfreund Erich Honecker, wenn Not am Mann war, zugunsten mancher Kollegen intervenieren konnte. Wir haben uns oft gestritten, doch ist es dabei immer höflich zugegangen.
Ich gehörte nicht zu den Auguren, die sich in den Eingeweiden der DDR auskannten. Ich war, mit anderen Worten, ein Ignorant, der nicht einmal wußte, daß Hermlin ein Pseudonym war, das er sich zugelegt hatte, und daß er eigentlich Rudolf Leder hieß. Auch sein langes und peinliches Poem zum 70. Geburtstag des sowjetischen Herrschers kannte ich nicht. Stalin war, wie er später sagte, »eine Gestalt und ein Name, die, wenn Sie wollen zu Unrecht, als Symbol für eine große Sache« standen. Nun, eine solche Huldigung war 1949 nicht nur üblich, es gehörte zur elementaren Technik derer, die überleben wollten, ganz ähnlich wie 1961 die Rechtfertigung des Berliner Mauerbaus.
Ungeachtet diverser Nationalpreise, die ihm zuteil wurden, hatte die Staatssicherheit ein wachsames Auge auf Hermlin. Er bekam Ärger mit der Akademie der Künste, weil er sich für junge Dichter wie Wolf Biermann und Volker Braun stark machte. Obwohl die Niederschlagung des Prager Frühlings ihn abstieß, wollte er an seiner kommunistischen Überzeugung nicht rütteln.
Schlimmer als das Auf und Ab der Parteilinie machte ihm eine gründliche Demontage seiner Selbstdarstellung zu schaffen, die Karl Corino 1996 vornahm. In seiner biographischen Untersuchung Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin wertete der Rechercheur minutiös und geradezu detektivisch Selbstauskünfte, Adreßbücher, Fragebogen und Akten aus, um die Lebenslügen und Inszenierungen seines Probanden zu überprüfen. Schon ein Vorabdruck in der Presse löste eine heftige Auseinandersetzung aus. Hatte Hermlin seinen Aufenthalt im Konzentrationslager, seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und seine Zugehörigkeit zur Résistance in Frankreich schlichtweg erfunden? War er ein Hochstapler, ein Lügner? Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Klaus Wagenbach, bei dem die meisten der von Corino inkriminierten Texte erschienen waren. Er verwies zu Recht darauf, daß sich der Ankläger besonders auf Hermlins Abendlicht stützte, ein Buch, das kein Memoirenwerk ist, sondern eine Montage, bei der sich Dichtung und Wahrheit kaum voneinander unterscheiden lassen.
Einmal verkündete Hermlin, Ossip Mandelstam sei friedlich in einem idyllischen Dorf auf der Krim gestorben. Als man ihm entgegenhielt, der russische Dichter sei in einem sibirischen Zwangsarbeiterlager umgekommen, erwiderte er:
Ich war schlecht informiert, weil ich schlecht informiert sein wollte.
Das war ein Satz, der von so tiefer Einsicht zeugte, daß nur die wenigsten gewillt waren, sich ihn zu eigen zu machen. Der 81jährige Hermlin hat sich nur wortkarg zu seinem »Fall« geäußert, der die deutschen Feuilletons monatelang beschäftigte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir im stillen einen Schüttelreim auszudenken:
Auf den Lärm hin
schwieg Hermlin.
Vielleicht hätte er sich ganz und gar der Fiktion in die Arme werfen und, frei von jeder Rücksicht auf die Tatsachen, den Roman eines fabelhaften Überlebenskünstlers schreiben sollen. Schade, daß er im eisernen Käfig der Ideologie nicht zu einer solchen Selbstüberwindung fähig war.