Ich überlasse der Zukunft die Geschichte Apollinaires.
(LX)

März 1902.

Über seinen Aufenthalt in Böhmen haben wir keine nachweisbaren Belege. Die einzige Quelle sind seine eigenen Werke und die Erinnerungen seines Freundes André Billy – Apollinaire vivant (Apollinaire im Leben). Billy, der mit Apollinaire in den vertraulichsten Beziehungen stand, schreibt:

Ich fragte ihn oft nach seiner Reiseroute, konnte aber nie Genaueres von ihm erfahren. Er reiste größtenteils zu Fuß, ohne Geld. Während seines zweitägigen Aufenthaltes in Prag lebte er von Camembert. Dieses Detail wird niemanden überraschen, der die äußerste Mäßigkeit kannte, deren dieser wohlbeleibte Esser fähig war.

Das Datum des Prager Aufenthaltes finden wir in der Eingangserzählung von Hérésiarque et Cie (Ketzer und Co.), die von Isaac Laquedem handelt und mit dem Satze beginnt:

Im März 1902 war ich in Prag. Ich kam von Dresden. Schon von Bodenbach an, wo sich das österreichische Zollamt befindet, merkte man am Benehmen der Bahnbeamten, daß im Reiche der Habsburger keine deutsche Zugeknöpftheit herrscht…

Wir wollen diese Angabe des Dichters als verhältnismäßig genau betrachten. Der Tag seiner Ankunft im Vorfrühling läßt sich nicht bestimmen, die Eintragungen über den Grenzübertritt sind nicht erhalten geblieben, und die Anmeldung in den Hotels wurde zu jener Zeit sehr lax behandelt. Übrigens sind die Bücher mit den Hoteleintragungen ebenfalls unauffindbar.

Nach den meteorologischen Aufzeichnungen war der März 1902 im allgemeinen mild. In Mittelböhmen lag kein Schnee mehr, in Prag war warmes Wetter.

Der einsame Dichter kommt in den Nachmittagsstunden auf dem damaligen Franz-Joseph-Bahnhof – dem heutigen Hauptbahnhof – an. Seine erste Sorge ist, »eine dem Geldbeutel eines nicht allzureichen Reisenden angemessene Unterkunft für die Nacht zu finden.« Er fragt Vorübergehende, die aber nicht Deutsch verstehen. Erst der sechste antwortet französisch.

In Böhmen, besonders in Prag, gab es schon damals verhältnismäßig viele Leute, die fremde Sprachen beherrschten. Es ist also keine bloße literarische Erdichtung des Autors, sondern wahrscheinlich Tatsache, wie auch aus dem ganzen Ton der Antwort des hilfsbereiten Fragers hervorgeht:

Sprechen Sie französisch, mein Herr, wir mögen die Deutschen nicht, noch weniger als die Franzosen. Wir hassen sie, diese Leute, die uns ihre Sprache aufzwingen wollen, unsere Industrie und unseren Boden ausbeuten, dessen Fruchtbarkeit alles liefert – Wein, Getreide, Edelsteine und Edelmetalle, alles außer Salz. In Prag wird nur tschechisch gesprochen. Aber wenn Sie französisch sprechen, werden die, die darauf antworten können, es mit Vergnügen tun. Er empfahl mir noch ein Hotel in einer Straße, deren Name geschrieben wird, wie man ihn ausspricht: Poritsch, und verabschiedete sich, nicht ohne mich seiner Sympathie für Frankreich zu versichern.

Dieser erste Augenblick ist sicher sehr bedeutungsvoll. Die Antipathie gegen das deutsche Element ist gerade in jenen Jahren sehr zugespitzt. Sie entspringt dem politischen und nationalen Kampf der Bewohner der Länder der böhmischen Krone gegen die österreichisch-ungarische Monarchie und die Expansionsgelüste des reichsdeutschen Imperialismus um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Charakterisierung der Naturreichtümer geht in ihrer Formulierung auf die »Kosmographie« Sebastian Münsters zurück. Sollte sie Apollinaire gekannt haben? Bei seinen umfassenden, auf das Mittelalter gerichteten Interessen ist das durchaus nicht ausgeschlossen. Das Gespräch fand wahrscheinlich in der Nähe des Bahnhofs statt. Dem Rate des freundlichen Mannes folgend, kommt Apollinaire in die Hybernergasse und von dort zu dem heutigen Bahnhof Praha-střed, dann auf den Pořič, wo es damals drei Hotels gab. Das Hotel de Saxe schließt sich von selbst aus als viel zu komfortabel für einen Reisenden, der nicht viel Geld besaß. Gegenüber jedoch waren zwei kleine Hotels nicht sehr respektabler Art. Nach Apollinaires Beschreibung war im Erdgeschoß des Hotels, in dem er sich einlogierte; ein Tingeltangel. Wenn wir von der authentischen Beschreibung ausgehen, kann es sich nur um das Gasthaus U Rozvařilů gehandelt haben, wo damals wirklich ein Volkskabarett auftrat.

Apollinaires Beschreibung gestattet uns auch eine genauere Datierung:

Paris feierte einige Tage vorher den hundertsten Geburtstag Victor Hugos.

Damit haben wir den terrninus antequam bestimmt. Hugos Geburtstag ist der 26. Februar. Apollinaires Ankunft fällt also in die erste Märzwoche, wo Prag noch des bedeutsamen Jahrestages der Geburt des Dichters gedachte, dessen Werk mehrfach ins Tschechische übersetzt und herausgegeben worden war, was Apollinaire selbst an verschiedenen Ausgaben in den Schaufenstern konstatierte.

Sobald er untergebracht ist, will er die Zeit nützen und noch die Stadt besichtigen. Die Erklärungen und Hinweise seines merkwürdigen Begleiters, des Ewigen Juden, dessen Gestalt in dieser ganzen Erzählung die Rolle eines Führers und Kommentators spielt und ihm gestattet, Apollinairesche Phantasterei und Intelligenz voll zu entfalten, sind bereits persönliches Erlebnis des wißbegierigen, empfindlich reagierenden Dichters, der dem Leser die typischen Züge der Hauptstadt Böhmens vor Augen führt; nach der Enttäuschung Berlins bezaubert und beeindruckt ihn die architektonische Schönheit Prags, was aus Sätzen deutlich wird wie:

Seht nur die alten Häuser! Heute noch tragen sie die Zeichen, die sie unterschieden, bevor Hausnummern eingeführt wurden. Hier ist das Haus zur Jungfrau, dort zum Adler, und dieses hier zum Ritter…

Diese Hauszeichen existierten noch zur Zeit von Apollinaires Besuch in Prag. Die Jungfrau – eine gotische Plastik – befand sich an dem Hause Nr. 552-I an der Ecke der Rybná und der Benediktinergasse, der Ritter – ebenfalls eine gotische Sandsteinfigur – schmückte den Eingang des Hauses Nr. 119-I in der Plattnergasse. Die Gebäude wurden später abgerissen, beide Hausplastiken befinden sich jetzt im Museum der Hauptstadt Prag. Das Zeichen des Adlers ist in der Jílská Nr. 452-I. Es ist ein Stuckrelief aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und weist bereits charakteristische Elemente des beginnenden Rokoko auf. Die Jahreszahl, die Apollinaire anführt, ist ebenfalls richtig.

Man kann daraus nur schließen, daß er in den Straßen umherschlenderte und in das Zentrum der Altstadt gelangte. Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß er bereits eine gewisse Kenntnis von der Lage der interessantesten und wichtigsten Sehenswürdigkeiten durch die Lektüre des Baedeckers hatte, der übrigens diejenigen Kunstdenkmäler und Werke, die Apollinaire am meisten beeindruckten und bestimmt tief erregten, nicht mit einem Stern bezeichnet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er sich Notizen machte, denn Details wie das Datum eines Portals vergißt man schnell. Diese vermutlichen Notizen sind leider verloren gegangen, was bei der Sorgfalt, mit der Apollinaire die handschriftlichen Entwürfe zu Gedichten und Versen aufbewahrte, merkwürdig ist. Er irrte durch enge Gäßchen zum Altstädter Ring, der damals allerdings anders aussah als heute. Es standen noch die Säule der Immaculata und einige später leider in dem kopf- und rücksichtslosen Assanierungsfieber abgerissene Häuser. Er besucht die Theinkirche, wo sich Tycho de Brahes Grab befindet. Das allerdings war Apollinaire entgangen. Er hielt sich auch bei der Rathausuhr, dem Werke des Meisters Hanuš, auf.

Wir gingen zur Rathausuhr, um das Glockenspiel zu hören. Der Tod zog das Seil und nickte dazu mit dem Kopf. Andere Figuren bewegten sich, während ein Hahn mit den Flügeln schlug und an einem offenen Fensterchen die zwölf Apostel vorbeizogen und gleichgültige Blicke auf die Straße warfen.

Von der Rathausuhr kam er zur »Špinka«, dem alten Gefängnis, dessen Namen er fälschlich als »Schbinska« transkribiert. Er besuchte die Altneusynagoge, in deren Nähe sich das jüdische Rathaus befindet, wo ihn die Uhr beeindruckte, »die hebräische Ziffern hat und deren Zeiger sich in umgekehrter Richtung bewegen«. Sie blieb ihm tief im Gedächtnis haften, denn noch zehn Jahre später gedenkt er ihrer in dem Verse der »Zone«:

Im jüdischen Viertel laufen die Zeiger der Uhr zurück…

Vom Altstädter Ring kam er über den Kleinen Ring durch die Karlsgasse an dem Clementinum vorbei zum Kreuzherrenkloster mit dem roten Stern und zu dem Brückenturm der Karlsbrücke, »von der der heilige Nepomuk, Märtyrer des Beichtgeheimnisses, in die Moldau geworfen wurde. Von dieser mit Heiligenstatuen geschmückten Brücke genießt man einen großartigen Ausblick auf die Moldau und die ganze Stadt Prag mit ihren Türmen und Klöstern.« Hier entspricht Apollinaires Schilderung nicht den Tatsachen. Von der Karlsbrücke genießt man zwar einen schönen Ausblick auf einen Teil des Prager Kais, auf Flußwindungen, Inseln und das architektonische Massiv der Burg, aber in seiner Erinnerung verschmolz offenbar die Aussicht von der Burg mit der von der Karlsbrücke, von wo er durch die Kleinseitner Brückentürme auf die Kleinseite gelangte. Vielleicht besichtigte er das Schuldgefängnis in dem einen der Türme und ritzte – wie der Maler Jindřich Štyrský dem Autor dieses Buches seinerzeit mitteilte – seine Unterschrift in den Wandbewurf, doch läßt sich dies nicht mehr feststellen. Vielleicht war es nur der Gedanke, ein frommer Wunsch späterer Generationen, auf die er durch sein Werk, sein Leben und seine ganze Persönlichkeit so stark einwirkte, daß sie es gerne gesehen hätten, sich dieses konkrete Andenken an seinen Besuch in Prag wenigstens erträumten, wenn schon, außer dem Wertvollsten, dem, was er über Prag schrieb, nichts erhalten geblieben war. Von der Karlsbrücke also sah er den »Burghügel« und »stieg zwischen Palästen zu ihm empor“, vom Kleinseitner Ring durch die Nerudagasse zur Schloßstiege. Es ist nur natürlich, daß ihn die dominierende architektonische Silhouette der Burg anzog, »… die königliche Burg auf dem Hradschin mit ihren großartigen und verödeten Sälen und dann die Kathedrale zu besuchen, in der sich die Gräber der Könige und der silberne Sarg des heiligen Nepomuk befinden. In der Kapelle, in der die böhmischen Könige gekrönt wurden und in der der heilige Wenzel sein Martyrium erlitt, machte mich Laquedem darauf aufmerksam, daß die Wände aus Edelsteinen, Achat und Amethyst, seien.

Er zeigte mir besonders einen Amethyst: ›Schauen Sie, die Äderung hier in der Mitte bildet ein Gesicht mit flammenden, irrsinnigen Augen. Man sagt, es sei das Gesicht Napoleons‹.

›Das ist ja mein Gesicht‹, rief ich aus, ,mit meinen dunklen, eifersüchtigen Augen! Und es ist wahr.

Es ist dort, mein schmerzerfülltes Porträt, bei der Bronzetür mit dem Ring, an dem sich der heilige Wenzel festhielt, als er ermordet wurde. Wir mußten hinausgehen…« Diese starke dichterische Evokation gehört zu den schönsten, die über die Prager Burg von ausländischen Dichtern geschrieben wurden (wenn wir noch die Verse der »Zone“ dazunehmen). Es bestehen zwar sachliche Irrtümer, die aber den Emotionsfaktor nicht vermindern.
In der königlichen Burg besichtigte er gemäß der damaligen Regel den Wladislawsaal, die anliegenden Parlamentsräume, ein architektonisches Relikt der böhmischen Spätgotik, und den Spanischen Saal. Man kann eigentlich nicht behaupten, daß diese Säle verödet wären, aber da sie leer, ohne jede Inneneinrichtung waren, mochten sie in der spärlichen Märzbeleuchtung durch ihre Ausmaße depressiv wirken und den Eindruck der Öde hervorrufen.

Im Veitsdom dominieren die Details, die Apollinaires Interesse stärker in Anspruch nahmen als das architektonische Ganze, ähnlich wie in seinem Gedicht über den Kölner Dom. Er besichtigte die Kathedrale auf dem Hradschin zur Zeit ihrer Restaurierung und Vollendung, und deshalb fesselten ihn mehr die Einzelheiten des großen baulichen Organismus, vor allem nach seinen eigenen Worten die königlichen Gräber mit ihren figuralen Tumben und der prunkvolle silberne Sarkophag Johann von Nepomuks, Werke verschiedenen Alters, Stils und Wertes. Die Figuren der böhmischen Herrscher, in Lebensgröße nach den Anschauungen des spätgotischen Realismus modelliert, sind bedeutende Werke der Parlerschen Bildhauerschule und mußten Apollinaire mit ihrer monumentalen Auffassung anziehen, wogegen er das Grab Nepomuks mehr als luxuriöses Kuriosum betrachtete.

Es war nicht Laquedem, der ihn in der Krönungskapelle auf die Wände aus böhmischen Halbedelsteinen aufmerksam machte. Eher war es ein Fremdenführer, der ihm den Amethyst zeigte, in dem der Dichter sein eigenes Antlitz mit den dunklen, eifersüchtigen Augen erblickte. Wurde ihm beim Schreiben jener Sätze klar, daß die Liebe zu Annie in ihm noch lebendig und auch die von sieben Schwertern durchbohrte Wunde in seinem eifersüchtigen Herzen noch offen war, wie er später im »Chanson du mal-aimé“ sangt?

Die Sankt Wenzelskapelle wurde in den Jahren 1372–1373 vom Fußboden bis zur Decke mit böhmischen Edelsteinen von seltener Größe ausgelegt, mit Ausnahme der Flächen, die der malerischen Ausschmückung vorbehalten blieben, die zusammen mit den Edelsteinintarsien eine Kompositionseinheit von exquisiter Wirkung bildet. Es ist darum keineswegs erstaunlich, daß ihre funkelnde Pracht im Gedächtnis des Dichters haften blieb. In der »Zone« vertauscht er allerdings den Amethyst mit einem Achat:

In den Achaten des Veitsdoms erblickst du dein Antlitz dir graut
Todtraurig warst du den Tag da du dich darin geschaut.

Es ist übrigens ein historischer Irrtum, wenn Apollinaire schreibt, daß an der Bronzetür der Ring hänge, »an dem sich der heilige Wenzel festhielt, als er ermordet wurde«. Diese Tür an der Nordseite der Wenzelskapelle ist »aus Holz, beiderseitig mit eisernen Platten und breiten, schräg gekreuzten, rhombische Felder bildenden, in den Schnittpunkten mit rosettenförmig gehämmerten Nägeln genieteten Blechstreifen beschlagen und mit einem romanischen Klopfer in der Form einer stylisierten Maske mit Ring versehen (11.–12. Jahrhundert)«.

Es ist aber möglich, daß der damalige Führer in jenem romanischen Klopfer wirklich den Ring sah, den Wenzel – nach einer Volksüberlieferung – in Stará Boleslav ergriff, als er an der Kirchentür unter den Schwerthieben seiner Mörder fiel. Und so gab er es wahrscheinlich an Apollinaire weiter. Nach der Besichtigung der Burg ging Apollinaire durch die Karmelitergasse und den Újezd und überschritt die Moldau »auf einer moderneren Brücke«. Es war die damalige Elisabethbrücke, heute die Brücke des 1. Mai. Die Schilderung des »Wirtshauses, in dem Musik spielte«, und wo der französische Gast zu Abend aß, ist verhältnismäßig objektiv, die anthropologische Charakterisierung der Tschechen etwas schematisch. Das Gasthaus war irgendwo in der unmittelbaren Nähe des heutigen Wenzelsplatzes, der im 19. Jahrhundert »Roßmarkt« hieß. Apollinaire kennt auch diesen alten Namen – offensichtlich aus einem Führer durch Prag – und indem er ihn zitiert, zeigt sich wieder seine Neigung, zu historisieren. Sein Interesse für jüdische Sitten und Bräuche führte ihn natürlich in die damals noch bestehende Judenstadt. Für den Plan der Fabel und die Pointierung der ganzen Erzählung – in der sich, sehr wahrscheinlich klingend, erlebte Wirklichkeit und Phantasmagorien der Sage vermählen – wandelt er das bizzarre Gewirr enger Gäßchen ungerechterweise in ein riesiges Lupanar um. Man kann ihm nicht zum Vorwurf machen, daß er künstlerisch schöpferischen Zielen die objektive Kenntnis der Stadt unterordnet, der er damit zwar unrecht tut, was er aber dadurch aufwiegt, daß er sie zum Schauplatz dieser packenden Novelle macht. Sie wurde in Böhmen sehr bald nach ihrem ersten Erscheinen bekannt, aber erst zwanzig Jahre später ins Tschechische übersetzt. Der bedeutende tschechische Kritiker und Kenner der modernen Dichtung F.X. Šalda, Verfasser schlagkräftiger Essays und Studien über die französische Literatur, veröffentlichte seine bemerkenswerte Übersetzung als Feuilleton in dem Blatte Tribuna am 3. Februar 1922.

Die Prager Erlebnisse kehren zehn Jahre später in Apollinaires Gedicht »Zone« wieder, das er wahrscheinlich im Sommer oder Herbst 1912 schrieb. Wir wollen uns hier nicht an die chronologische Konzeption halten, sondern den »Wanderer durch Prag« mit den Prag gewidmeten Versen der »Zone« vergleichen:

Du bist in einem Gartenlokal der Umgebung Prags
Ganz glücklich eine Rose steht auf dem Tisch
Statt deine Erzählung zu schreiben starrst du in lässiger Pose
Den Käfer an der schläft in dem Kelche der Rose
Im Achat des Veitsdoms erblickst du dein Antlitz dir graut
Todtraurig warst du den Tag da du dich darin geschaut
Wie Lazar bist du mit lichtgeblendetem Blick
Im jüdischen Viertel laufen die Zeiger der Uhr zurück
Auch du weichst in deinem Leben langsam zurück vor den Dingen
Hinansteigend zum Hradschin und abends dem Singen
Böhmischer Lieder lauschend in Prager Schenken

Von der dichterischen Lizenz Gebrauch machend, verlegt Apollinaire seinen Prager Besuch in eine andere Jahreszeit; zu Beginn des Frühlings gibt es in Prag noch keine Rosen, die der Wirt eines Gasthauses dem Gast auf den Tisch stellen könnte, eines Gasthauses, das er im »Passant de Prague« (Wanderer durch Prag) ganz anders beschreibt und dabei die Atmosphäre eines kleinen Prager Lokals besser erfaßt. Es ist zweifelhaft, daß er während der zwei Tage, die der Besichtigung der Stadt gewidmet waren, auch in die Umgebung Prags gekommen sein sollte. Nach einer ebenfalls undokumentierten Tradition wird als dieses Gasthaus das Goldene Brünnl auf den Terassen des Hradschins angesehen, von wo man eine wunderschöne Aussicht über das Panorama von Prag genießt, das Alexander Humboldt (und Apollinaire beruft sich im »Wanderer« darauf) zu den fünf schönsten Städten Europas zählt. Den Austausch des Amethystes gegen den Achat haben wir bereits erwähnt, die übrigen Elemente seines Lobgesanges über die Stadt stimmen im allgemeinen mit den Eindrücken des »Wanderers« überein. Bedeutungsvoll ist der letzte Vers:

und abends dem Singen böhmischer Lieder lauschend in Prager Schenken,

denn er hatte einen Irrtum in der Interpretation und dem Suchen der Inspirationsquellen dieses Gedichtes zur Folge. Apollinaire erzählte einmal Louise Faure-Favier, er habe während seines Aufenthaltes in Prag eine hervorragende tschechische Dichterin und Übersetzerin der Verse Victor Hugos, Frau Krasnoworska, kennengelernt. Apollinaires »Krasnoworska« ist identisch mit der tschechischen Dichterin und Übersetzerin Eliška Krásnohorská, die in dem Jahre, als Apollinaire Prag besuchte, fünfundfünfzig Jahre alt war. Die Schreibweise des Namens dieser Dichterin subjektiver und reflexiver Lyrik ist in Apollinaires Transkription polnisch. Dies darf einen nicht wundernehmen, denn im »Wanderer« finden wir noch andere falsche Schreibweisen von Prager Orts- und Personennamen.

Aber warum kommt in Apollinaires Erinnerungen gerade dieser Name vor? Sollte er ihm in den Schaufenstern der Buchläden begegnet sein, die noch auf den hundertsten Geburtstag Victor Hugos eingestellt waren? Sollte er dort einige ihrer Bücher, eventuell ihre Photographie gesehen haben? Es ist natürlich auch möglich, daß er sie durch ein Spiel uns unbekannter Umstände wirklich kennenlernte. Oder wollte er in seiner Neigung zur Ruhmrederei Louise Faure-Favier damit blenden, daß eine ausländische Schriftstellerin sich für ihn interessiere, von der Faure-Favier etwas übertrieben behauptet, ganz Böhmen kenne ihre Verse?

Louise Faure-Favier stellt hier die rhetorische Frage, ob es nicht vielleicht gerade Eliška Krásnohorskás Verse waren, die Apollinaire »hinansteigend zum Hradschin« in den Schenken singen hörte. Die Frage ist gegenstandslos, denn die böhmische Musikologie findet keinen Beleg für eine so weite Verbreitung ihrer Gedichte, wenn sie auch das Libretto zu einigen Opern Smetanas, Bendls und Fibichs schrieb.

Nach dem Weltkrieg suchte Louise Faure-Favier bei einem Besuch Prags die große Dichterin auf, erhielt aber von ihr keine konkreten Informationen.

Sie schreibt, sie habe in ihrer Bibliothek luxuriös gebundene Bände von Alcools und Caligrammes gesehen, konnte aber nicht feststellen, ob es Geschenke des Autors waren.

In Prag klagte M. Feschel, der Direktor der Bibliothek der ›Amis de France‹ (Freunde Frankreichs) über Mangel an Büchern. Ich erwähnte dies im Temps. Infolge meines Artikels dotierte Paul Labbe alle europäischen Bibliotheken der ›Amis de France‹ reichlich. Und als ich im folgenden Jahre (1923) Prag wieder besuchte, zeigte mir M. Feschel auch wirklich reich mit Büchern ausgestattete Regale. Apollinaires Werke standen an erster Stelle. »Er ist ein sehr gesuchter Autor«, sagte er.

M. Feschel stellte mich auch Eliška Krásnohorská vor.

Nach dem Text des »Ermordeten Dichters« wurde gefolgert, daß Apollinaire von Prag nach Brünn reiste. Eine Analyse der betreffenden Stellen des Romans ergibt jedoch, daß der Dichter nicht in Brünn war. Den Beweis liefert das in Schlagworten geführte Reisetagebuch Apollinaires, in dem es heißt:

Stadt Tabor – Südböhmen mit seinen Teichen und niedrigen Bauernhöfen – dann Wien.

Sein Wiener Aufenthalt findet seinen Niederschlag in der Novelle »Adlerjagd«, die im Jahre 1916 der ersten Ausgabe des Ermordeten Dichters beigefügt wird. Der erste Satz – genau wie im „Wanderer durch Prag“ – lokalisiert die Fabel und bestätigt seinen Besuch der Hauptstadt Österreichs:

Ich war schon acht Tage in Wien in Österreich… Gerade besuchte ich Schönbrunn und durcheilte tief bewegt den regennassen, melancholischen Park; in dem einst jener tragische König; von Rom umhergeirrt war, der als Herzog von Reichstadt starb.

Ich dachte lange über die Hauptstadt der Habsburger nach, und bei Anbruch des Abends, als die Lichter angezündet wurden, machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Hotel im Zentrum der Stadt.

Von Wien fährt Apollinaire nach München zu Frau Milhau, wo er längere Zeit bleibt. Nach Décaudin »kam er um Mitte März nach München und reiste Anfang Mai wieder ab«. Er hält sich dort auch einige Zeit bei dem bekannten Bildhauer Hüsgen auf, der ihn auf seinen Wanderungen durch die Stadt begleitet. Apollinaire besucht außer anderen Denkwürdigkeiten auch den alten Nordfriedhof in der Ancisstraße, in der Hüsgen sein Atelier hatte. Diese Besichtigung der Münchner Nekropole, einem Gegenstück zu der Pariser »Morgue«, inspiriert den Dichter zu dem Prosastück »La Maison des Morts« (Das Haus der Toten), das 1907 im Soleil gedruckt und dann in ein Gedicht für die Sammlung Alcools umgearbeitet wird, wo der Autor den ursprünglichen Titel »L’Obituaire« ändert.

Wie so oft, verschmilzt Apollinaire in beiden Versionen Wirklichkeit und Vision, und wir finden auch hier die Lokalisierung und das ungefähre Datum:

Kaum zwei drei Wochen in München
Betrat ich zum ersten Mal
Und durch Zufall
Diesen fast verödeten Friedhof
Und es klapperten mir die Zähne
Vor all dieser Bürgerschaft
Zur Schau gestellt in ihren besten Gewändern
Vor ihrem Begräbnis

Der Aufenthalt in München bedeutet eine wesentliche Bereicherung für Apollinaires Inspiration. Er ist in ständiger Verbindung mit Frankreich und bemüht sich, die Revue nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Journalist zu erobern.

 

Vladimír Diviš: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Aleš Krejča, Artia, 1966